Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Schriftsteller im Spiegelkabinett
Peter Stamm spielt in seinem neuen Roman „In einer dunkelblauen Stunde“mit der eigenen Biografie
Rechtzeitig zu seinem 60. Geburtstag wollten die Regisseure Arne Kohlweyer und Georg Isenmann einen Film über Peter Stamm drehen und ihn begleiten, wie er ein Buch schreibt. Der Schriftsteller willigte ein, drehte den Spieß aber um und entgegnete. „Also schreibe ich ein Buch über zwei, die einen Film über einen Autor machen.“Gesagt, getan. Während der Dokumentarfilm „Wechselspiel – wenn Peter Stamm schreibt“bei den Solothurner Filmtagen am 19. Januar Premiere feierte, erschien der Roman sogar schon einen Tag früher am Geburtstag des Schweizers.
Doch Vorsicht: Wer jetzt glaubt, in seinem neunten Roman mit dem Titel „In einer dunkelblauen Stunde“mehr über den 1963 geborenen und in Weinfelden im Kanton Thurgau aufgewachsenen Schriftsteller zu erfahren, irrt sich. Nur ungern spricht Peter Stamm über sein Privatleben. Lediglich im Band „Die Vertreibung aus dem Paradies“(2014) hat er ein paar Einblicke gewährt.
Und viel mehr gibt er auch im neuen Buch nicht von sich preis, in dem er gekonnt mit Versatzstücken der eigenen Biografie spielt und kunstvoll ein Spiegelkabinett entwirft, in dem er den Blick auf seine Person immer wieder bricht. Der Schriftsteller im Buch, der den Namen Richard Wechsler trägt, ist nur bedingt sein Alter Ego.
Ich-Erzählerin Andrea will mit ihrem Freund und „zukünftigen ExFreund“Tom einen Film über Wechsler machen. Sie filmt ihn in seiner Wahlheimat Paris am Seineufer und reist in das kleine Dorf in der Schweiz, in dem Wechsler aufgewachsen ist. Dort spricht sie mit Judith, dessen unerfüllter Jugendliebe, über die er all seine Bücher geschrieben hat. Irgendwie aber will der Film nichts werden. Der Porträtierte nimmt keine Konturen an. Wie in der Blauen Stunde verschwimmen die Bilder. Ungünstig für einen Film. Die essenziellen Dinge sagt Wechsler nur am Rand des Drehs. Und wenn Andrea ihn damit konfrontiert, fragt, ob er so etwas nicht in die Kamera sagen könne, antwortet er nur „natürlich nicht“und lacht. Als Wechsler dann nicht wie verabredet in seinem Heimatdorf erscheint, scheitert das Filmprojekt.
Während Schriftsteller wie Karl Ove Knausgård, Kim de l’Horizon oder die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux mit autofiktionalen Büchern derzeit auf einer Erfolgswelle schwimmen, hat sich Peter Stamm diesem Ansatz bisher verweigert. Auch im neuen Buch spielt er nur mit der Selbstbespiegelung. „Die Wirklichkeit schreibt keine Geschichten“, heißt es gegen Ende in einem dieser wunderbaren Sätze wie Stamm sie immer wieder einzustreuen versteht. Und in Bezug auf den da schon verstorbenen Wechsler, der die Filmemacherin Andrea auch nach dem Scheitern ihres Projektes nicht loslässt, heißt es weiter. „In der Fiktion kann man nicht leben, aber auch nicht sterben.“
Schon in seinen letzten Büchern arbeitete Peter Stamm kunstvoll mit Spiegel- und Doppelgängermotiven. Zuletzt in „Das Archiv der Gefühle“(2021). Im aktuellen Roman aber treibt er dieses Spiel zu einer neuen Meisterschaft. Nach Wechslers Tod probiert Andrea immer neue Varianten der Geschichte aus. Bald ist nicht mehr klar, was Wahrheit und was Fiktion ist. Ein ums andere Mal lässt sich der Leser täuschen durch diesen Vexierspiegel von einem Roman. Wie souverän Peter Stamm das komponiert hat, ist schon beeindruckend.