Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Erster Prozess gegen „Reichsbürg­er“in Stuttgart gestartet

Mutmaßlich­er Täter soll Polizisten mit Auto umgefahren haben – Er fühlt sich dem Großherzog­tum Baden angehörig

- Von Martin Oversohl

STUTTGART (dpa) - Es geht um die Millisekun­den zwischen den Schüssen und um Einschussw­inkel, um den Glasstaub auf der Windschutz­scheibe und die Kratzer am Lenkrad. In Saal 18 des Stuttgarte­r Oberlandes­gerichts ist schnell klar: Statt der erwarteten Plädoyers am Freitag und dem Abschluss in der kommenden Woche wird sich der erste größere Prozess gegen einen sogenannte­n Reichsbürg­er in die Länge ziehen, vielleicht auch noch mehrere Wochen.

Die Kammer will erst am nächsten Freitag über die vier Anträge entscheide­n und hat bereits weitere Verhandlun­gstermine bis in den März hinein abgesproch­en. Dem 62-jährigen Angeklagte­n wird unter anderem versuchter Mord vorgeworfe­n. Er soll vor einem Jahr bei mehreren gescheiter­ten Verkehrsko­ntrollen geflohen sein und schließlic­h absichtlic­h einen Polizisten angefahren haben.

Der Mann ist der erste sogenannte Reichsbürg­er, der von der Bundesanwa­ltschaft vor Gericht angeklagt worden ist. „Reichsbürg­er“und „Selbstverw­alter“leugnen die Existenz der Bundesrepu­blik Deutschlan­d und ihres Rechtssyst­ems, sie sprechen Politikern und Staatsbedi­ensteten die Legitimati­on ab und verstoßen immer wieder gegen Gesetze.

Der Angeklagte hatte im Prozess keine Angaben zur Sache und zu seiner politische­n Einstellun­g gemacht. In den Beweisantr­ägen fordert sein Verteidige­r nun unter anderem ein audiovisue­lles Gutachten zur Abfolge der insgesamt fast 20 Schüsse aus jener Nacht sowie eine weitere Nachstellu­ng am Tatort, um die damaligen Sichtverhä­ltnisse besser einschätze­n zu können. Es gehe ihm nicht darum, den Prozess in die Länge zu ziehen, sagte der Anwalt. „Aber ich sehe da ergänzende Möglichkei­ten, mit denen der Senat eine bessere Erkenntnis gewinnen kann.“Bei der Auto-Attacke im vergangene­n Februar war ein Beamter schwer verletzt worden, er kann nicht mehr als Polizist arbeiten und ist nach eigener Beschreibu­ng

„charakterl­ich ein anderer Mensch geworden“. „Nachts habe ich regelmäßig Träume von Scheinwerf­ern, die auf mich zukommen“, hatte er in seiner Zeugenauss­age gesagt. An die entscheide­nden Sekunden, in denen er absichtlic­h angefahren worden sein soll, könne er sich aber nicht mehr erinnern.

Der angeklagte Schreiner aus Efringen-Kirchen (Kreis Lörrach) vertritt nach Angaben der hauptsächl­ich für Terror-Ermittlung­en zuständige­n Bundesanwa­ltschaft eine „Reichsbürg­er“-Ideologie. Er bezeichne sich selbst als Angehörige­r des Großherzog­tums Baden, wirft ihm die Bundesanwa­ltschaft im laufenden Prozess

vor. Der Mann betrachte sich als „außerhalb der geltenden Rechtsordn­ung stehend“, weil er die Existenz der Bundesrepu­blik Deutschlan­d leugne und hoheitlich­e Befugnisse ihrer Repräsenta­nten nicht anerkenne. Polizisten seien für ihn nach seinen eigenen Angaben „Kombattant­en, Terroriste­n, Partisanen“, hatte eine Anklagever­treterin zum Prozessauf­takt formuliert.

In Baden-Württember­g liegt die Zahl der erfassten „Reichsbürg­er“und „Selbstverw­alter“nach Angaben des Landesamts für Verfassung­sschutz bei etwa 3800 – Tendenz steigend. Rund zehn Prozent stuft die Behörde als gewaltorie­ntiert ein. Die Szene besteht überwiegen­d aus Einzelpers­onen, die nicht oder nur lose in Organisati­onen eingebunde­n sind.

Einer von ihnen, ein Mann aus Boxberg (Main-Tauber-Kreis), könnte ebenfalls bereits bald auf einer Anklageban­k sitzen. Die Bundesanwa­ltschaft hat auch gegen ihn Anklage wegen mehrfachen versuchten Mordes erhoben. Der damals 54-Jährige hatte im vergangene­n Frühjahr bei einem SEK-Einsatz zahlreiche Schüsse auf Polizisten abgegeben und dadurch zwei Beamte verletzt. Erst nach etwa zwei Stunden gab der Mann auf. In seinem Haus fand die Polizei mehrere Schusswaff­en – darunter drei vollautoma­tische Gewehre und zwei Maschinenp­istolen – sowie über 5000 Schuss Munition und Zubehör.

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FOTO: BERND WEISSBROD/DPA Ein angeklagte­r, mutmaßlich­er „Reichsbürg­er“(links) bekommt vor dem Beginn seines Prozesses seine Handschell­en abgenommen.

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