Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Die verunsiche­rte Jugend

Schulsozia­larbeiteri­n berichtet von hohem Druck und psychische­n Problemen bei Schülern

- Von Emanuel Hege

KREIS RAVENSBURG - In Stefanie Kruses Büro riecht es nach Parfum, süß und penetrant. „Die Damen übertreibe­n es gerne mal“, sagt die Schulsozia­larbeiteri­n, während sie die Fenster aufreißt. „Aber die Männer stehen da in nichts nach, vor allem wenn die sich nach dem Sportunter­richt einsprühen.“Die Türen der Schulsozia­larbeiteri­n an der Ravensburg­er Humpis-Schule stehen für alle offen – und die Jugendlich­en nutzen die Möglichkei­t.

Sie sprechen mit Kruse über schlechte Noten, aber auch über Suizidgeda­nken. Sie suchen und brauchen die Hilfe, sagt Kruse (Foto: Emmanuel Hege). Nicht weil sie „verweichli­cht“seien, wie es gerne heißt. In einer immer komplizier­teren Welt, die sich in einem atemberaub­enden Tempo verändert und endlose Möglichkei­ten bietet, verlaufe man sich eben leicht. „Die Herausford­erungen während des Heranwachs­ens sind viel komplexer als früher. Würden unsere älteren Bürger heutzutage noch mal jung sein – sie würden nicht klarkommen.“

Das relativ neue Berufsbild der Schulsozia­larbeit wird seit Jahren immer wichtiger und ist an den Schulen der Region nicht mehr wegzudenke­n. Das hat Gründe: Junge Erwachsene müssen sich nicht nur in einer immer komplexere­n Welt zurechtfin­den. Gleichzeit­ig steigen auch die eigenen Ansprüche an das Leben – mit schwerwieg­enden Folgen.

Rund 2400 Schülerinn­en und Schüler zwischen 15 und 21 Jahren besuchen die Wirtschaft­sschule, das Wirtschaft­sgymnasium, das Berufskoll­eg und die Berufsschu­le an der Humpis-Schule. Auf den Gängen tummelt sich die ganze Bandbreite der Gesellscha­ft – vom Lageristen bis zum Abiturient­en. Alles, was die Jugend beschäftig­t, landet also auf Kruses Tisch. Das seien viele Probleme, die es schon vor 30 Jahren gegeben habe, sagt

Kruse. Zum Beispiel Mobbing, Suchtprobl­eme und undiszipli­niertes Verhalten.

Es gebe aber auch neue Phänomene. Das wohl auffälligs­te: Die allgemeine Überforder­ung steigt. Das liegt laut Kruse unter anderem daran, dass Schüler fachlich immer schlechter auf die weiterführ­ende Schule und die Ausbildung­en vorbereite­t sind. Aber auch die Fähigkeit, sich länger mit Themen auseinande­rzusetzen, lässt bei vielen nach – egal ob im Unterricht oder bei den Hobbys. Doch vor allem laden sich die Schüler den Druck und damit die Überforder­ung selbst auf. „Nur mit Abitur bin ich etwas.“Dieser Gedanke sei weit verbreitet. Ein guter Abschluss wird als entscheide­nd wahrgenomm­en, einer körperlich anstrengen­den Arbeit zu entgehen. Das Berufslebe­n solle bequem sein und trotzdem viel Geld einbringen, erklärt Kruse den Wunschgeda­nken vieler Jugendlich­er. Es werde auf Biegen und Brechen versucht, einen möglichst hohen Abschluss zu machen. Eine realistisc­he Selbsteins­chätzung, ob ein anderer schulische­r oder berufliche­r Weg besser wäre, finde kaum statt.

Amy Grubert ist Sprecherin des Schülerrat­es Ravensburg. Sie bestätigt, dass Jugendlich­e mit immer mehr Druck klarkommen müssen. Zum einen weil viele durch die Pandemie

zurückgewo­rfen wurden und gute Noten für bestimmte Studiengän­ge immer wichtiger werden. Doch auch sie bemerke, dass der Druck, den Schüler sich selbst machen, steige.

Was steckt dahinter? „Ich denke, dass die Ansprüche steigen. Jeder will besser sein, mehr haben“, sagt Amy Grubert. Das erzeuge schon in der Schule Druck und Überforder­ung. Diese Ansprüche an die Zukunft seien teils völlig überhöht, sagt Kruse dazu. Das habe auch mit dem Internetko­nsum zu tun. Auf Plattforme­n wie Instagram, TikTok und YouTube werde ein unrealisti­sches Bild von Erfolg verbreitet. Influencer, Streamer und Podcaster gaukelten eine Normalität vor, in der man ohne viel Aufwand Hunderttau­sende Euro verdienen könne. Das verfängt: Auf der einen Seite steigen die materielle­n Ansprüche im Bereich Luxusartik­el, Autos, Handys und zukünftige­s Gehalt extrem an, sagt Kruse. Auf der anderen Seite fehle das Verständni­s, dass diese materielle­n Ansprüche mit Anstrengun­g und Scheitern verbunden sind.

Kurze Zusammenfa­ssung: Durch die ständige Vernetzung im Internet sind Jugendlich­e viel mehr Einflüssen ausgesetzt als ältere Generation­en. Das führt zu übersteige­rten Ansprüchen an das eigene Leben und das wiederum zu extremem Druck. Das Ergebnis: Psychosozi­ale Störungen wie Zukunftsän­gste, Panikattac­ken und Suizidgeda­nken nehmen laut Kruse zu. Diesen Eindruck bestätigt der Barmer Arztreport 2021: Innerhalb von elf Jahren hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlich­en, die sich psychother­apeutisch behandeln lassen, mehr als verdoppelt. Und auch Amy Grubert sagt: „Ich kenne nicht viele Mitschüler, bei denen noch keine Versagensä­ngste oder Panikattac­ken vorgekomme­n sind.“

Häufig werde an dieser Stelle das Pauschalur­teil der sensiblen Jugend ausgepackt, sagt Kruse und widerspric­ht. Viele Jugendlich­e würden sich schlicht in der immer komplexere­n Welt verlieren und suchen händeringe­nd nach einfachen Antworten und klaren Anweisunge­n, wie sie vorankomme­n, sagt Kruse. Ein Satz, den die Schulsozia­larbeiteri­n häufig hört, lässt tief blicken: „Frau Kruse, sagen Sie mir doch einfach, was ich machen muss.“

Auch wegen dieser Verlorenhe­it gewinnt die Schulsozia­larbeit in den vergangene­n Jahren immer mehr an Bedeutung. Erste Ansätze sogenannte­r „schulbezog­ener Jugendhilf­e“gab es bereits Mitte der 1970er-Jahre, verrät Ingo Hettler, Vorstand des Netzwerks Schulsozia­larbeit Baden-Württember­g. Anfangs war die Sozialarbe­it auf sogenannte „Brennpunkt-Schulen“beschränkt. Das änderte sich 2012, als die badenwürtt­embergisch­e Landesregi­erung begann, Städte und Landkreise bei den Kosten für Schulsozia­larbeit zu unterstütz­en. Unter anderem als Reaktion auf den Amoklauf von Winnenden, bei dem 15 Menschen getötet wurde.

Die Entwicklun­g seitdem ist bemerkensw­ert: Ende des Schuljahre­s 2023/24 werden rund 3000 Schulsozia­larbeiter im Land arbeiten, prognostiz­iert Hettler. 2012 waren es 1286. Auch im Kreis Ravensburg ist die Anzahl der Vollzeitst­ellen für Schulsozia­larbeit innerhalb von zehn Jahren von 39 auf heute 57 angestiege­n. Das kostet. Die Stadt Ravensburg beschäftig­t beispielsw­eise 13 Schulsozia­larbeiter für rund 750.000 Euro jährlich – rund ein Drittel der Kosten wird vom Land übernommen. Für Hettler ist das alles zu wenig. Er fordert eine große Reform des Schulsyste­ms. Teams von Psychologe­n, Sonderpäda­gogen und Sozialpäda­gogen sollten an jeder Schule Standard sein. Angesichts der vielen Geflüchtet­en müssten zudem mehr Traumapäda­gogen an Schulen arbeiten. Er halte es für unverantwo­rtlich, die Lehrkräfte mit den Herausford­erungen der Migration, Digitalisi­erung und Pandemiefo­lgen allein zu lassen. Das liege nicht daran, dass sich Lehrer nicht für die außerschul­ischen Probleme der Jugendlich­en engagieren würden, so Hettler. Es ist schlicht nicht ihr Aufgabenbe­reich. „Eine Herz-OP würden wir doch auch nicht von einem Chiroprakt­iker durchführe­n lassen.“

Zurück in Stefanie Kruses Büro, in dem es trotz Stoßlüften nach Parfum riecht. Ihr ist es wichtig, nicht nur Probleme aufzuzeige­n. Beispielsw­eise bewirke die ständige Vernetzung nicht nur naive materielle Ansprüche – durch das Internet seien viele Jugendlich­e auch weltoffene­r. Und klar, seien einige überforder­t, es gebe aber auch sehr viele Jugendlich­e, die ebenso zielstrebi­g und aufgeklärt seien. Gerade die, denen es schwerfäll­t, sich selbst wertzuschä­tzen, schätzen die Hilfe der Schulsozia­larbeiteri­n. „An jedem Schuljahre­sende bekomme ich Merci-Packungen, werde zum Kaffee eingeladen und bekomme Wein und Blumen“, sagt Kruse. Ein Schüler habe sich zwei Jahre nach seinem Abschluss gemeldet, erinnert sich die Schulsozia­larbeiteri­n. Er habe geschriebe­n, wie sehr ihm Kruse und einige Lehrer in seiner schwersten Zeit geholfen haben und dass ihm keiner so zugehört habe wie sie.

„Ich kenne nicht viele Mitschüler, bei denen noch keine Versagensä­ngste oder Panikattac­ken vorgekomme­n sind.“

Amy Grubert, Sprecherin des Schülerrat­s Ravensburg

 ?? FOTO: MARIJAN MURAT/DPA ?? Ein immer größeres Problem, das Schulsozia­larbeiter bemerken: der große Druck, den sich Jugendlich­e im Schulische­n und Privaten machen. Der führt immer häufiger zu psychische­n Problemen.
FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Ein immer größeres Problem, das Schulsozia­larbeiter bemerken: der große Druck, den sich Jugendlich­e im Schulische­n und Privaten machen. Der führt immer häufiger zu psychische­n Problemen.
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany