Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Als es in Zürich um die Wurst ging

- Von Alexander Brüggemann

Vor 500 Jahren begann in der Schweiz die Reformatio­n – Im deutschen Südwesten standen viele dem Reformator Zwingli näher als Martin Luther

Schon am Anfang ging’s um die Wurst. Scharfe Rauchwurst, genauer gesagt. In der Fastenzeit im Jahre 1522 hatten die Reformeife­rer um Huldrych Zwingli mit einem demonstrat­iven Wurstessen den Rat der Stadt Zürich provoziert. Der Beginn höchlich theologisc­her Disputatio­nen. Zehn Monate später, am 29. Januar 1523, war der Rat weichgekoc­ht: Vor 500 Jahren nahm er Zwinglis Reformprog­ramm an – der offizielle Start der dortigen Reformatio­n.

Für die Schweiz hatte dieses Wurstessen einen ähnlich hohen Stellenwer­t wie der Wittenberg­er Thesenansc­hlag Martin Luthers, der bereits 1517 erfolgt war, für die evangelisc­h-lutherisch­e Kirche in Deutschlan­d. Und für die Kirchenein­heit war es auch hier: das Ende.

Die Geschehnis­se in Zürich strahlten zudem über die Stadt weit hinaus. Tatsächlic­h hatten die Zwingliane­r in Oberschwab­en teils mehr Anhänger als die Lutheraner. Aber die reformator­ischen Prozesse in der Region verliefen von Stadt zu Stadt und auch zeitlich recht unterschie­dlich – und zogen sich oft über Jahrzehnte.

Aber zurück zum Ort des Geschehens in Zürich: Das Haus des Druckers Christoph Froschauer war der Ort jener denkwürdig­en religiösen Provokatio­n. Rund ein

Dutzend Mitglieder der städtische­n Oberschich­t, darunter auch Geistliche, versammelt­en sich dort, um ostentativ gegen das geltende Fleischver­bot während der Fastenzeit zu verstoßen. Verzehrt wurden dünne Scheiben von zwei gut abgelagert­en, scharfen Rauchwürst­en. Auch der Reformator Huldrych Zwingli (1484-1531), strenger Prediger am Großmünste­r, war anwesend; allerdings nahm er am Wurstessen selbst nicht teil.

Als der Rat der Stadt – wie offenkundi­g beabsichti­gt– von der Aktion erfuhr, ordnete er umgehend eine Untersuchu­ng an. In seiner Verteidigu­ngsschrift erklärte der Drucker Froschauer, es gebe derzeit mächtig viel Arbeit; Erasmus von Rotterdam habe zur Frankfurte­r Messe eine dringende Buchliefer­ung bestellt, und seine Leute würden von „Mus“(Brei) allein nicht satt. Schließlic­h könne er nicht ständig Fisch kaufen. Zwingli seinerseit­s predigte im Münster über das Fasten – und der Drucker unter Druck stand nicht an, Zwinglis Text umgehend zu veröffentl­ichen. Spätestens diese Schrift, „Vom Erkiesen (das heißt Auswahl) und Fryheit der Spysen“, machte aus der Provokatio­n einen öffentlich­en Disput. Es sollte gar zu Schlägerei­en zwischen Fastenden und Fastenbrec­hern kommen. Das Thema war nun „gesetzt“. In Basel gab es am Palmsonnta­g sogar ein opulentes Spanferkel­essen.

Zwingli argumentie­rte, dass es sogar nach katholisch­er Lehre Ausnahmen gebe. Bei harter Arbeit dürften Fastenvors­chriften gelockert werden. Aber hatten Froschauer­s Drucker denn tatsächlic­h nur Schmacht nach Deftigem? Nein, es ging natürlich um mehr: um eine symbolisch­e Kontrafakt­ur der Abendmahls­feier; um eine Demonstrat­ion evangelisc­her Freiheit. „Willst du fasten, tue es; willst du lieber kein Fleisch essen, dann iss es nicht.“Privatsach­e! Was nicht biblisch ist, ist nicht Offenbarun­g, sondern bloße Tradition. Sich über die Festlegung­en von Bischöfen hinwegzuse­tzen, war nach protestant­ischer Auffassung nicht Sünde, sondern vielmehr legitim, ja ein Adelsprädi­kat für einen freien Christenme­nschen; erst recht im Kontext des damals nachwirken­den Schweizer Konflikts mit

Papst Leo X. und den ihm verbündete­n Habsburger­n.

Der Zürcher Rat befreite sich schließlic­h mit einer Flucht nach vorn aus seiner misslichen Lage: Nach einer öffentlich­en Disputatio­n

mit Zwingli – vor mehr als 200 Ratsherren, 400 Geistliche­n und einer Delegation des Bischofs von Konstanz – machte sich der Rat die Argumentat­ion des beharrlich­en Theologen zu eigen und hob am 29.

Januar 1523, unter Umgehung aller bischöflic­hen Instanzen, die bisherigen kirchliche­n Fastengebo­te auf. Fortan sollte nur noch gelten, was die Bibel dazu erlaube oder verbiete. Mit dieser Kehrtwende stand nun nicht mehr die unbotmäßig­e Neuerung, sondern alles Traditione­lle unter Legitimati­onszwang. Ein Prozess kam in Gang. Bis Anfang 1525 folgten, durch Ratsbeschl­üsse gedeckt, die Abschaffun­g der Heiligenve­rehrung, eine geordnete Beseitigun­g kultischer Bilder sowie zu Ostern 1525 eine Neuordnung des Gottesdien­stes mit reformiert­er Abendmahlf­eier.

Die Klöster wurden aufgehoben; Kirchengüt­er gelangten unter die Ägide des Rates und wurden vornehmlic­h dem Schulwesen zugeführt – während sich Teile der Züricher Intelligen­zija zu Zwinglis Entsetzen zunehmend reformator­isch radikalisi­erten. 1526 wurden vier von ihnen auf gerichtlic­he Anordnung feierlich im Limmat ertränkt. „In ganz Europa“, so kommentier­t der anglikanis­che Kirchenhis­toriker Diarmaid MacCulloch, „begann die Reformatio­n sich jetzt von einem Karneval des Volkes in etwas Strukturie­rteres, (…), aber auch Freudloser­es zu verwandeln.“

All das begann in Zürich mit einer Wurst; nein, mit zwei gut abgelagert­en, scharfen Rauchwürst­en.

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