Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Den unbändigen Zorn zügeln
Wutanfälle und Frust gehören zur normalen Entwicklung bei Kindern – Die sogenannte Trotzphase treibt viele Eltern dennoch fast in den Wahnsinn – Was Wissenschaftler raten
Von Nadine Zeller
Die Kinderhand ballt sich um das Brokkoliröschen und pfeffert es auf den Küchenboden. „Das hebst du jetzt wieder auf“, sagt der Vater am festlich gedeckten Familientisch. „Nein!“, schreit das Kind und stapft über Reis und Brokkoli hinweg durch die Küche. Schon ist er wieder dahin – der Traum vom harmonischen Familienessen. Manchmal will man sich als Elternteil am liebsten selbst auf den Boden werfen und in Wutgeheul ausbrechen. Dieser Wunsch zeugt davon, dass es eben auch für Erwachsene nicht so einfach ist, unsere Gefühle unter Kontrolle zu halten. Wie also gelingt es trotzdem? Wie gehen wir mit Wutanfällen von Kindern um? Und welche Antworten hat die Wissenschaft parat?
Entwicklungspsychologin Stefanie Höhl versteht, dass kindliche Wutanfälle viele Eltern verunsichern. Als Leiterin der Entwicklungspsychologie an der Universität Wien forscht sie zu sozialem Lernen und Emotionsentwicklung. Sie sagt: „Es geht nicht darum, Wutanfälle zu vermeiden. Es geht darum, dem Kind beizubringen, wie es mit frustrierenden Situationen umgeht.“Denn Wut erleben wir als Kontrollverlust: Sie brodelt ins uns hoch, packt uns, bricht sich Bahn. Redewendungen zeugen davon. Wer vor Wut schäumt, gilt als unbeherrscht, unseriös und primitiv.
„Dabei vergessen wir oft, dass Wut einen Zweck erfüllt. Mit Wut reagiert das Kleinkind auf einen Missstand“, sagt Höhl. Zum Beispiel wenn der spannende Flaschendeckel auf dem Küchentisch außer Reichweite des Kindes liegt oder die Mutter den „falschen“Pullover angezogen hat. Gründe, die den Zorn des Kindes entfachen, gibt es viele. Und solange es noch nicht sprechen kann, entlädt sich die Wut besonders heftig.
So zeigen bereits Säuglinge im Alter von einem halben Jahr erste Wutanfälle, die dann im Laufe des folgenden Jahres immer intensiver werden. Ihr Zenit erreichen sie im Alter von 18 Monaten bis zwei Jahren. Die berühmte Trotzphase bricht an, die von Entwicklungspsychologen zwischenzeitlich Autonomiephase genannt wird. In dieser Zeit lernen Kinder zu krabbeln oder zu laufen und fühlen sich in ihrem Forschungsdrang durch Erwachsene oft ausgebremst. Das spannende Treppenhaus darf nicht allein erkundet, die interessante Klobürste nicht durch den Hausflur geschleift und das bunte Bücherregal nicht ausgeräumt werden. Das ärgert und frustriert. „Der Wunsch, Dinge allein machen zu wollen, ist Kindern angeboren“, sagt Höhl. Wer Kinder dabei unterstütze, umschiffe von vornherein viele Wutanfälle. Gleichzeitig nütze es wenig, Kinder vor jedem frustrierenden Erlebnis zu schützen. „Auch als Erwachsene brauchen sie die Fähigkeit, ihre Ziele zu verfolgen und sich nicht selbst im Weg zu stehen“, sagt Höhl. Wer also früh anfängt zu üben, mit Frustration umzugehen und seine Gefühle zu kontrollieren, hat es später einfacher.
Entwicklungspsychologin Stefanie Höhl
Die gute Nachricht ist: Der kindliche Körper arbeitet mit. Mit zunehmender Reife des Nervensystems gelingt den Kleinen allmählich der Übergang von der Außen- zur Selbstregulation. Während ein Säugling noch auf körperliche Nähe und Trost angewiesen ist, um sich zu beruhigen, schaffen es ältere Kinder immer öfter, in Eigenregie runterzukommen und ihr Verhalten zu steuern. Voraussetzung dafür ist, dass der Frontallappen – auch präfrontaler Cortex genannt – ein bestimmtes Entwicklungsstadium erreicht hat. Nur wer seine geistige Aufmerksamkeit gezielt kontrollieren kann, ist auch in der Lage, sein Verhalten zu steuern. Kleinkindern fällt dies noch schwer. Denn um nach der Devise „erst denken, dann handeln“agieren zu können, müssen die sogenannten exekutive Funktionen entwickelt sein. Dieser Begriff aus der Hirnforschung beschreibt geistige Mechanismen, die gewährleisten, dass wir unser Verhalten steuern können und nicht von unseren Emotionen und Impulsen geleitet werden.
Wissenschaftler unterscheiden dabei drei Arten der exekutiven Funktionen: erstens das Widerstehen von Impulsen (also beispielsweise nicht zum Handy zu greifen, wenn ein wichtiger Test bevorsteht), zweitens das Verbessern des Arbeitsgedächtnisses durch Strategien (zum Beispiel gezielt die Aufmerksamkeit auf die wichtigen Informationen zu lenken) und drittens kognitive Flexibilität (zum Beispiel die Perspektive einer anderen Person einnehmen). Diese Fähigkeiten entwickeln Kinder im Kindergartenund Grundschulalter. Dreijährige hingegen bereitet es hingegen noch große Schwierigkeiten mit Unvorhergesehenem klarzukommen und zwischen verschiedenen Anforderungen zu wechseln.
Der Wechsel zwischen verschiedenen Orten macht ihnen beispielsweise oft zu schaffen: vom Spielplatz nach Hause, vom Hof in die Wohnung, vom Wohnzimmer in die Küche. Es ist kein Zufall, dass sich viele Wutanfälle an Orten des Übergangs abspielen. Kinder kostet es noch viel Energie sich auf die stetigen Veränderungen einzustellen. Deswegen kann es helfen, Wechsel anzukündigen und zu strukturieren. Trotzdem lassen sich Wutanfälle nicht verhindern. Was also tun, wenn das Kind bereits gestresst ist?
Um herauszufinden, wie Eltern ihren Kindern am besten helfen, mit Wut klarzukommen, hat eine Forschergruppe der Universität Wien eine Untersuchung mit 158 Kindern durchgeführt. Die Entwicklungspsychologen Felix Deichmann und Lieselotte Ahnert haben die Kinder dazu aufgefordert, eine schwierige Aufgabe zu lösen. Diese bestand darin, ein Spielzeug aus einer Box mit einem Loch zu holen, das dafür zu klein war. Anschließend haben sie beobachtet, wie die Kinder mit dieser frustrierenden Erfahrung umgehen und wie die Eltern darauf reagieren. Dabei stellte sich heraus, dass sicher gebundene Kinder, später und kürzer frustriert waren. Zudem haben sich die Forscher aber auch die Reaktion der Eltern in der Situation genauer angeschaut. Die meisten reagierten auf zwei Arten: entweder mit dem sogenannten Demonstrieren („Siehst du,
’’ Mit Wut reagiert das Kleinkind auf einen Missstand.
das Spielzeug kann nicht durch die Öffnung passen“) oder mit dem klassischen Beruhigen („Willst du auf meinen Schoß?“). Das Demonstrieren, das besonders Väter anwandten, verringerte den kindlichen Frust kurz, doch schon nach fünf Sekunden zeigten die Kinder wieder dasselbe Wutlevel, einige schleuderten sogar das Spielzeug weg.
Aber auch die Taktik des Beruhigens, die vor allem Müttern einsetzten, funktionierte nicht. Versuche, das Kind zu trösten, fachten den Zorn noch viel mehr an. Die Forscher erklärten sich dies damit, dass dieses Verhalten nicht zur Lösung des Problems beitrug, sondern die Kinder vielmehr entmutigte. Überraschenderweise half aber auch die dritte Methode, nämlich das Ermutigen, kaum etwas. Angesichts der Unmöglichkeit das Spielzeug aus der Box zu holen, musste die Reaktion des Anfeuerns
– das vor allem Väter zeigten – den Kindern aussichtslos vorkommen.
Aber welche Taktik wirkte dann? Überraschenderweise jene, die Eltern am seltensten einsetzten: Erst ablenken und dann Reframen. Dabei beleuchtet ein Elternteil die Situation aus einer neuen Perspektive. Beispielsweise erzählt der Vater dem Kind eine Geschichte aus der eigenen Kindheit, als er selbst mal ein Spielzeug nicht aus der Dose bekommen hat, und wie er dann die Box mit dem Spielzeug einfach als Rhythmusinstrument benutzt hat. Oder die Mutter erfindet ein Spiel, in dem sie beginnt, mit dem Spielzeug in der Box zu reden und ihm Fragen zu stellen, wie es dort hineingekommen ist. Das Kind lernt dadurch geistig flexibel zu bleiben. Durch spielerischen Umgang verleihen Vater oder Mutter der Situation eine neue Bedeutung.
Wie in vielen Situationen im Leben kommt es letztlich darauf an, wie man sie sieht. Aber wie soll das funktionieren, wenn das Kind tobt? Es kommt auf die Reihenfolge der Methoden an: Die Forscher stellten fest, dass es gut funktioniert, die Kinder erst abzulenken und dann die Situation in einen neuen Kontext zu setzen – also sprich zu reframen.
Klar ist aber auch, dass der Einfluss der Eltern Grenzen hat. Manche Kinder regen sich schneller auf als andere. Sich Zeit zu nehmen und sich klarzumachen, dass Kinder erst lernen, ihr Verhalten und ihre Gefühle zu steuern, lohnt sich also. Denn wer heute cholerisch gegenüber seinen eigenen Kindern reagiert, der hat dies auch irgendwo gelernt. Das Gute ist, dass Menschen auch als Erwachsene in der Lage sind, ihr Verhalten zu ändern – den exekutiven Funktionen sei Dank.