Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Wirtschaft vor langer Schwächephase
Führende Ökonomen erwarten niedrige Wachstumsraten – Krise als Chance
MÜNCHEN (dpa) - Der deutschen Wirtschaft steht nach Einschätzung prominenter Ökonomen eine jahrelange Phase schwachen Wachstums bevor. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW), das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen und das ifo-Institut in München gehen übereinstimmend davon aus, dass die jährlichen Wachstumsraten mittelfristig unter einem Prozent liegen werden – und damit sehr viel niedriger als im Schnitt der vergangenen dreißig Jahre.
„Das Wirtschaftswachstum in Deutschland dürfte in diesem Jahrzehnt
deutlich schwächer ausfallen als in den vermeintlich wirtschaftlich erfolgreichen 2010er-Jahren“, sagte DIW-Präsident Marcel Fratzscher. „Die Abschwächung des Wirtschaftspotenzials Deutschlands geht auf eigene Versäumnisse zurück und hat wenig mit dem Krieg in der Ukraine oder der Corona-Pandemie zu tun.“
Deutschland habe in den vergangenen 20 Jahren große wirtschaftspolitische Fehler begangen. Als größtes Versagen kritisierte der DIW-Präsident die „bisher gescheiterte ökologische Transformation, die dazu geführt hat, dass Deutschland viel zu abhängig von fossilen und sehr teuren Energieimporten ist und die technologische Transformation
zu nachhaltigen und innovativen Technologien verschlafen hat“.
Am IfW Kiel meint Vizepräsident Stefan Kooths: „Wir hatten in den vergangenen 30 Jahren eine jährliche Wachstumsrate von 1,4 Prozent im Mittel.“Die mittelfristige Projektion des IfW weist bis 2027 einen Rückgang auf unter 0,7 Prozent aus. „Das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange“, sagte Kooths. „Das heißt: Was wir in den vergangenen Jahrzehnten gewohnt waren, wird innerhalb relativ kurzer Zeit auf ein Drittel schrumpfen. Der Grund dafür ist die demografische Entwicklung.“Eine alte Gesellschaft sei typischerweise weniger in der Lage, neue Technologien zu adaptieren. Am RWI Essen ist die Einschätzung ganz ähnlich: „Die Krisen der vergangenen zwei Jahre haben das Wachstum der deutschen Wirtschaft zwar geschwächt, es hätte sich aber ohnehin in den kommenden Jahren verringert“, sagte Konjunkturchef Torsten Schmidt.
Robert Lehmann vom Münchner Ifo-Institut kommt zu ganz ähnlichen Ergebnissen, Schwarzmalen will der Wirtschaftsforscher aber nicht: Aus den Jahren der CoronaPandemie könnten auch Chancen entwachsen beziehungsweise bereits entwachsen sein. Als Beispiel nannte Lehmann die beschleunigte Digitalisierung, „was die Belastungen durch den demografischen Wandel zumindest teilweise abmildern kann“. LEITARTIKEL