Schwäbische Zeitung (Tettnang)
80 Jahre Triumph und Trauer
Am 2. Februar jährt sich der Jahrestag der Kapitulation der Wehrmacht in Stalingrad. In der Stadt, die heute Wolgograd heißt, ist die Erinnerung überall präsent – doch in das Gedenken mischen sich neue, ungute Gefühle.
WOLGOGRAD - Die „Mutter Heimat“ist zu groß, um schön zu sein. 7900 Tonnen schwer, 85 Meter hoch, sie wuchtet ein riesiges Schwert in die Luft, Augen und Mund sind vor Zorn aufgerissen. Vor diesem Zorn wirken die Menschen am Mamajew-Hügel wie winzige schwarze Striche im Schnee.
Aber Andrej, ein junger Wolgograder, der in einer Moskauer Bank arbeitet, kommt meist hierher, wenn er in der Stadt ist. Auch heute, bei 15 Grad Frost. „Ich nähere mich dem Denkmal und bekomme Gänsehaut.“
Für die Russen ist es das Denkmal der Denkmäler, erinnert an ihre Schlacht der Schlachten, an Stalingrad. Das ganze Land wird am 2. Februar den 80. Jahrestag der Kapitulation der 6. Armee Hitlers feiern. Aber dieses Jahr mischen sich neue, ungute Gefühle in die Festtagsstimmung.
Unten, an der Trambahnhaltestelle, hängt ein Billboard, das Rotarmisten neben einem maskierten Krieger mit modernem Kampfhelm zeigt. In der Unterschrift tauchen V und Z auf, Putins Ukraine-Feldzeichen. „Russlands Krieger, wir sind stolz auf euch.“Als hätten die Z-Truppen Butscha so aufopfernd verteidigt wie die Rote Armee Stalingrad.
„Ich bin nicht sehr einverstanden“, sagt Andrej über den UkraineFeldzug. „Niemand bedroht unser Staatsgebiet, man hätte auch ohne Kampfhandlungen auskommen können.“Er fühle Stolz auf Stalingrad, aber eigentlich gebe es im Krieg keine Sieger. „So viele Menschen sind umgekommen!“
Wolgograd gleicht einem Freilichtmuseum der Schlacht um Stalingrad. Am Marschall-Schukow-Prospekt
hängen sechs Stockwerke hohe Heldenporträts, auch Josef Stalin in weißer Uniform. Aus den ziegelroten Originalruinen der Grudinin-Mühle flackert nachts elektrisches MG-Feuer. Panzertürme auf Marmorsockeln an der Tschujkow-Straße markieren die Front der 62. Sowjetarmee – keine hundert Meter von der Wolga entfernt. Im Frühherbst 1942 war es die letzte sowjetische Abwehrlinie. Dahinter schwimmen Eisschollen, riesig wie Fußballfelder, flussabwärts.
Im August 1942 drangen erste Stoßtrupps der 6. Armee in die Industriestadt ein, die strategisch nur einen Randposten von Hitlers Feldzug „Fall Blau“darstellte: Nach dem Scheitern vor Moskau im Winter war die Einnahme der kaspischen Ölfelder im heutigen Aserbaidschan das neue Ziel der Deutschen. Aber die Offensive blieb im Nordkaukasus hängen. Die Stadt an der Wolga wurde Entscheidungsschlachtfeld: Hitler wollte Stalins Stadt. Stalin aber hatte nach monatelangem, hastigem Weichen den berühmt gewordenen Befehl 227 ausgeben lassen: „Keinen Schritt mehr zurück!“
Die Verteidiger lieferten den Deutschen erbitterte Straßenkämpfe, aber bis Oktober war das Zentrum fast ganz in deutscher Hand. Wie auf dem Schießstand durchlöcherten Wehrmachtsgeschütze sowjetische Schiffe, die Nachschub und Ersatz über die 1,2 Kilometer breite Wolga beförderten.
Im Museum für Bildende Kunst werden Bilder des Landschaftsmalers Sergei Pelichow ausgestellt. Einige davon zeigen Orte der Schlacht, den Mamajew-Hügel, das Wolgaufer, eine Backsteinruine auf der umkämpften Ljudnikow-Insel. „So stelle ich mir das Gesicht des Krieges vor“, sagt der Künstler. Sein Urgroßvater, ein Parteifunktionär, brachte seine Familie über die Wolga in Sicherheit, kam dann zurück, um als Freiwilliger zu kämpfen. „Heldentum ist nur schwer zu erklären“, sagt Pelichow, „oder gar nicht.“Aber er möchte sein Echo auf der Leinwand festhalten.
Die Rotarmisten klammerten sich an Hausruinen, Hochöfen, Kanalschächte, griffen ihrerseits an. „Hier standen Rodimzews Gardisten bis in den Untergang. Wir haben standgehalten und den Tod besiegt.“Pelichow hat auch die Ufermauer-Graffiti der Verteidiger gemalt. „Vielleicht ist es gut“, überlegt er, „dass heute unvorstellbar ist, was sich hier abspielte.“
Hitlers siegesgewohnte Landser gerieten in die Mahlzähne einer Zermürbungsschlacht. Und Mitte November überrollten überlegene sowjetische Panzertruppen die dünnen, von Rumänen gehaltenen Flanken der 6. Armee. Etwa 300.000 Deutsche und Rumänen wurden eingekreist, nach zweieinhalbmonatiger Kesselschlacht kapitulierten 91.000 halb tote Überlebende am 2. Februar. Nur 6000 sollten heimkehren.
Seine Großmutter hätte als Kind mehrere Wochen in einem zugeschütteten Stalingrader Keller verbracht, sagt Igor Schein. Der Wolgograder Unternehmer trinkt ein alkoholfreies Bier im „Bamberg“, einem Brauhaus an der Komsomolskaja Uliza. Wie das benachbarte „Gretel“und andere teure Restaurants liegt es sehr nahe an der Frontlinie von 1942. Gastronomisch herrscht jetzt Völkerfreundschaft.
„Meine Großmutter hieß Alexandra Filimonowa, Jahrgang 1908. Im Keller ernährten sie sich von Ratten und getautem Eis“, erzählt Schein. „Als unsere Soldaten sie herausholten, sah sie auf der Straße Feuerstellen, über denen Kleinkinder wie Spanferkel aufgespießt waren.“
Das hätten Rumänen getan, erklärt Schein. Aber später korrigiert er sich, er habe den Gesprächspartner nicht kränken wollen: „Meine Großmutter sagte, das waren Deutsche.“Der Geschäftsmann redet sachlich, aber schnell, als wären seine Worte eine Last, die er loswerden will.
Niemand weiß genau, wie viele Soldaten bei Stalingrad umkamen, Historiker reden von 300.000 bis 500.000 Deutschen und von 500.000 bis zu einer Million Russen. Und niemand
Alexander Strukow, Vorsitzender des Veteranenrates in Wolgograd weiß, wie viele Zivilisten. Anfang Februar 1943 hatte die einstige Halbmillionenstadt keine 8000 Einwohner mehr.
Sechs Stalingrad-Kämpfer lebten noch in der Stadt, seufzt Alexander Strukow, sie seien bettlägerig, zum Teil blind. Als Vorsitzender des Wolgograder Veteranenrates gehört Strukow, 71, zu den zentralen Hütern des Stalingrad-Kultes. Ein gut gelaunter Ideologe, er plaudert über den Vorschlag seiner Veteranen, die Stadt wieder in Stalingrad umzutaufen. „Stalingrad muss auf der Weltkarte zu finden sein, Stalingrad ist die Heimat des Sieges, unseres Sieges, den wir niemals preisgeben.“Der Ex-Geheimdienstler lächelt wie Joe Bidens kleiner Bruder.
Für die Russen war der Sieg 1942 die Befreiung aus einem Alptraum. Der Armeebuchhalter Wassili Sajzew wurde in Stalingrad Scharfschütze und tötete 242 Deutsche. Später erzählte er, im Eifer des Kampfes sei er tagelang ohne Schlaf und Essen ausgekommen, habe angesichts der deutschen Kriegsverbrechen nur höchst ungern Gefangene gemacht. „Man speichert ordentlich Hass in solch einer Zeit“, sagte er. „Man sieht, wie im Park an den Bäumen Mädchen hängen, Kinder.“
Alle hier, Lebende und Tote, sind sich einig: Bei Stalingrad hat die rechte Sache gesiegt. „Für uns ist das ein Kampf um unsere Häuser gewesen, um Frauen und Kinder, der Feind ist gekommen, um uns unser Land abzunehmen, wir haben es verteidigt“, sagt Chefveteran Strukow, diesmal klingt er nicht einmal pathetisch.
Solche Worte hört man seit einem knappen Jahr auch von Menschen in der Ukraine. Am 24. Februar 2022 schlugen russische Raketen in Kiew ein, am ersten Kriegstag 1941 hatte Hitlers Luftwaffe Kiew ebenfalls bombardiert. Strukow will den Vergleich beider Angriffe nicht gelten lassen. Er sagt, in der Ukraine bekämpften Russlands Soldaten jetzt neue Nazis, die leider auch von Deutschland unterstützt würden.
In einer Waffelbäckerei an der Leninstraße grinsen junge Gesichter verschiedenster Ethnien von einem Wandgemälde, zwei tragen Baseballmützen mit Putins Z und V: „Feel the zest for life“, lautet die Unterschrift.
Nur wirkt diese Z-Propaganda irgendwie verstohlen. Die Geräuschkulisse hier besteht aus afroamerikanischem Pop des deutschen Radiosenders Defjay. „Hier sind keineswegs alle für den Krieg“, die junge, hünenhafte Kellnerin trägt ihr Haar so halblang wie die „Mutter Heimat“. Aber ihr Lächeln ist von entschuldigender Sanftheit. Das Wandgemälde habe der Inhaber, ein früherer Militär, anbringen lassen. „Viele Gäste, die Z und V sehen, gehen sofort wieder.“
Viele Wolgograder haben ein ausgeprägtes Gefühl für den Unterschied zwischen Eroberern und Verteidigern. „Wer hat angefangen in der Ukraine? Wir!“, klagt eine Junglehrerin nach einem halben Liter Bier. „Und Nazideutschland, sind das jetzt nicht wir?“
Auf halber Höhe des MamajewHügels, vor der Halle des Kriegsruhms, bearbeitet eine kleine, stämmige Arbeiterin im blauen Watteanorak mit einem Pickel die Eiskruste. Was sie vom Heldentum ihrer Stalingrader Großväter hält? „Wir würden uns heute genauso wehren“, sie lächelt selbstbewusst, „wenn uns jemand angreift.“Putins Kriegsspezialoperation ist auch für sie kein Verteidigungsfall.
„Der Feind ist gekommen, um uns unser Land abzunehmen, wir haben es verteidigt.“