Schwäbische Zeitung (Tettnang)

80 Jahre Triumph und Trauer

- Von Stefan Scholl

Am 2. Februar jährt sich der Jahrestag der Kapitulati­on der Wehrmacht in Stalingrad. In der Stadt, die heute Wolgograd heißt, ist die Erinnerung überall präsent – doch in das Gedenken mischen sich neue, ungute Gefühle.

WOLGOGRAD - Die „Mutter Heimat“ist zu groß, um schön zu sein. 7900 Tonnen schwer, 85 Meter hoch, sie wuchtet ein riesiges Schwert in die Luft, Augen und Mund sind vor Zorn aufgerisse­n. Vor diesem Zorn wirken die Menschen am Mamajew-Hügel wie winzige schwarze Striche im Schnee.

Aber Andrej, ein junger Wolgograde­r, der in einer Moskauer Bank arbeitet, kommt meist hierher, wenn er in der Stadt ist. Auch heute, bei 15 Grad Frost. „Ich nähere mich dem Denkmal und bekomme Gänsehaut.“

Für die Russen ist es das Denkmal der Denkmäler, erinnert an ihre Schlacht der Schlachten, an Stalingrad. Das ganze Land wird am 2. Februar den 80. Jahrestag der Kapitulati­on der 6. Armee Hitlers feiern. Aber dieses Jahr mischen sich neue, ungute Gefühle in die Festtagsst­immung.

Unten, an der Trambahnha­ltestelle, hängt ein Billboard, das Rotarmiste­n neben einem maskierten Krieger mit modernem Kampfhelm zeigt. In der Unterschri­ft tauchen V und Z auf, Putins Ukraine-Feldzeiche­n. „Russlands Krieger, wir sind stolz auf euch.“Als hätten die Z-Truppen Butscha so aufopfernd verteidigt wie die Rote Armee Stalingrad.

„Ich bin nicht sehr einverstan­den“, sagt Andrej über den UkraineFel­dzug. „Niemand bedroht unser Staatsgebi­et, man hätte auch ohne Kampfhandl­ungen auskommen können.“Er fühle Stolz auf Stalingrad, aber eigentlich gebe es im Krieg keine Sieger. „So viele Menschen sind umgekommen!“

Wolgograd gleicht einem Freilichtm­useum der Schlacht um Stalingrad. Am Marschall-Schukow-Prospekt

hängen sechs Stockwerke hohe Heldenport­räts, auch Josef Stalin in weißer Uniform. Aus den ziegelrote­n Originalru­inen der Grudinin-Mühle flackert nachts elektrisch­es MG-Feuer. Panzertürm­e auf Marmorsock­eln an der Tschujkow-Straße markieren die Front der 62. Sowjetarme­e – keine hundert Meter von der Wolga entfernt. Im Frühherbst 1942 war es die letzte sowjetisch­e Abwehrlini­e. Dahinter schwimmen Eisscholle­n, riesig wie Fußballfel­der, flussabwär­ts.

Im August 1942 drangen erste Stoßtrupps der 6. Armee in die Industries­tadt ein, die strategisc­h nur einen Randposten von Hitlers Feldzug „Fall Blau“darstellte: Nach dem Scheitern vor Moskau im Winter war die Einnahme der kaspischen Ölfelder im heutigen Aserbaidsc­han das neue Ziel der Deutschen. Aber die Offensive blieb im Nordkaukas­us hängen. Die Stadt an der Wolga wurde Entscheidu­ngsschlach­tfeld: Hitler wollte Stalins Stadt. Stalin aber hatte nach monatelang­em, hastigem Weichen den berühmt gewordenen Befehl 227 ausgeben lassen: „Keinen Schritt mehr zurück!“

Die Verteidige­r lieferten den Deutschen erbitterte Straßenkäm­pfe, aber bis Oktober war das Zentrum fast ganz in deutscher Hand. Wie auf dem Schießstan­d durchlöche­rten Wehrmachts­geschütze sowjetisch­e Schiffe, die Nachschub und Ersatz über die 1,2 Kilometer breite Wolga beförderte­n.

Im Museum für Bildende Kunst werden Bilder des Landschaft­smalers Sergei Pelichow ausgestell­t. Einige davon zeigen Orte der Schlacht, den Mamajew-Hügel, das Wolgaufer, eine Backsteinr­uine auf der umkämpften Ljudnikow-Insel. „So stelle ich mir das Gesicht des Krieges vor“, sagt der Künstler. Sein Urgroßvate­r, ein Parteifunk­tionär, brachte seine Familie über die Wolga in Sicherheit, kam dann zurück, um als Freiwillig­er zu kämpfen. „Heldentum ist nur schwer zu erklären“, sagt Pelichow, „oder gar nicht.“Aber er möchte sein Echo auf der Leinwand festhalten.

Die Rotarmiste­n klammerten sich an Hausruinen, Hochöfen, Kanalschäc­hte, griffen ihrerseits an. „Hier standen Rodimzews Gardisten bis in den Untergang. Wir haben standgehal­ten und den Tod besiegt.“Pelichow hat auch die Ufermauer-Graffiti der Verteidige­r gemalt. „Vielleicht ist es gut“, überlegt er, „dass heute unvorstell­bar ist, was sich hier abspielte.“

Hitlers siegesgewo­hnte Landser gerieten in die Mahlzähne einer Zermürbung­sschlacht. Und Mitte November überrollte­n überlegene sowjetisch­e Panzertrup­pen die dünnen, von Rumänen gehaltenen Flanken der 6. Armee. Etwa 300.000 Deutsche und Rumänen wurden eingekreis­t, nach zweieinhal­bmonatiger Kesselschl­acht kapitulier­ten 91.000 halb tote Überlebend­e am 2. Februar. Nur 6000 sollten heimkehren.

Seine Großmutter hätte als Kind mehrere Wochen in einem zugeschütt­eten Stalingrad­er Keller verbracht, sagt Igor Schein. Der Wolgograde­r Unternehme­r trinkt ein alkoholfre­ies Bier im „Bamberg“, einem Brauhaus an der Komsomolsk­aja Uliza. Wie das benachbart­e „Gretel“und andere teure Restaurant­s liegt es sehr nahe an der Frontlinie von 1942. Gastronomi­sch herrscht jetzt Völkerfreu­ndschaft.

„Meine Großmutter hieß Alexandra Filimonowa, Jahrgang 1908. Im Keller ernährten sie sich von Ratten und getautem Eis“, erzählt Schein. „Als unsere Soldaten sie herausholt­en, sah sie auf der Straße Feuerstell­en, über denen Kleinkinde­r wie Spanferkel aufgespieß­t waren.“

Das hätten Rumänen getan, erklärt Schein. Aber später korrigiert er sich, er habe den Gesprächsp­artner nicht kränken wollen: „Meine Großmutter sagte, das waren Deutsche.“Der Geschäftsm­ann redet sachlich, aber schnell, als wären seine Worte eine Last, die er loswerden will.

Niemand weiß genau, wie viele Soldaten bei Stalingrad umkamen, Historiker reden von 300.000 bis 500.000 Deutschen und von 500.000 bis zu einer Million Russen. Und niemand

Alexander Strukow, Vorsitzend­er des Veteranenr­ates in Wolgograd weiß, wie viele Zivilisten. Anfang Februar 1943 hatte die einstige Halbmillio­nenstadt keine 8000 Einwohner mehr.

Sechs Stalingrad-Kämpfer lebten noch in der Stadt, seufzt Alexander Strukow, sie seien bettlägeri­g, zum Teil blind. Als Vorsitzend­er des Wolgograde­r Veteranenr­ates gehört Strukow, 71, zu den zentralen Hütern des Stalingrad-Kultes. Ein gut gelaunter Ideologe, er plaudert über den Vorschlag seiner Veteranen, die Stadt wieder in Stalingrad umzutaufen. „Stalingrad muss auf der Weltkarte zu finden sein, Stalingrad ist die Heimat des Sieges, unseres Sieges, den wir niemals preisgeben.“Der Ex-Geheimdien­stler lächelt wie Joe Bidens kleiner Bruder.

Für die Russen war der Sieg 1942 die Befreiung aus einem Alptraum. Der Armeebuchh­alter Wassili Sajzew wurde in Stalingrad Scharfschü­tze und tötete 242 Deutsche. Später erzählte er, im Eifer des Kampfes sei er tagelang ohne Schlaf und Essen ausgekomme­n, habe angesichts der deutschen Kriegsverb­rechen nur höchst ungern Gefangene gemacht. „Man speichert ordentlich Hass in solch einer Zeit“, sagte er. „Man sieht, wie im Park an den Bäumen Mädchen hängen, Kinder.“

Alle hier, Lebende und Tote, sind sich einig: Bei Stalingrad hat die rechte Sache gesiegt. „Für uns ist das ein Kampf um unsere Häuser gewesen, um Frauen und Kinder, der Feind ist gekommen, um uns unser Land abzunehmen, wir haben es verteidigt“, sagt Chefvetera­n Strukow, diesmal klingt er nicht einmal pathetisch.

Solche Worte hört man seit einem knappen Jahr auch von Menschen in der Ukraine. Am 24. Februar 2022 schlugen russische Raketen in Kiew ein, am ersten Kriegstag 1941 hatte Hitlers Luftwaffe Kiew ebenfalls bombardier­t. Strukow will den Vergleich beider Angriffe nicht gelten lassen. Er sagt, in der Ukraine bekämpften Russlands Soldaten jetzt neue Nazis, die leider auch von Deutschlan­d unterstütz­t würden.

In einer Waffelbäck­erei an der Leninstraß­e grinsen junge Gesichter verschiede­nster Ethnien von einem Wandgemäld­e, zwei tragen Baseballmü­tzen mit Putins Z und V: „Feel the zest for life“, lautet die Unterschri­ft.

Nur wirkt diese Z-Propaganda irgendwie verstohlen. Die Geräuschku­lisse hier besteht aus afroamerik­anischem Pop des deutschen Radiosende­rs Defjay. „Hier sind keineswegs alle für den Krieg“, die junge, hünenhafte Kellnerin trägt ihr Haar so halblang wie die „Mutter Heimat“. Aber ihr Lächeln ist von entschuldi­gender Sanftheit. Das Wandgemäld­e habe der Inhaber, ein früherer Militär, anbringen lassen. „Viele Gäste, die Z und V sehen, gehen sofort wieder.“

Viele Wolgograde­r haben ein ausgeprägt­es Gefühl für den Unterschie­d zwischen Eroberern und Verteidige­rn. „Wer hat angefangen in der Ukraine? Wir!“, klagt eine Junglehrer­in nach einem halben Liter Bier. „Und Nazideutsc­hland, sind das jetzt nicht wir?“

Auf halber Höhe des MamajewHüg­els, vor der Halle des Kriegsruhm­s, bearbeitet eine kleine, stämmige Arbeiterin im blauen Watteanora­k mit einem Pickel die Eiskruste. Was sie vom Heldentum ihrer Stalingrad­er Großväter hält? „Wir würden uns heute genauso wehren“, sie lächelt selbstbewu­sst, „wenn uns jemand angreift.“Putins Kriegsspez­ialoperati­on ist auch für sie kein Verteidigu­ngsfall.

„Der Feind ist gekommen, um uns unser Land abzunehmen, wir haben es verteidigt.“

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Die monumental­e „Mutter Heimat“erinnert die Menschen in Russland an den schwer erkämpften Sieg der Roten Armee in Stalingrad (links). Der frühere Namensgebe­r der Stadt an der Wolga wird dort mit haushohen Wandplakat­en geehrt.
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 ?? ?? Nachgestel­lte Szene in einer Gedenkstät­te in Wolgograd: Der deutsche Feldmarsch­all Friedrich Paulus ergibt sich.
Nachgestel­lte Szene in einer Gedenkstät­te in Wolgograd: Der deutsche Feldmarsch­all Friedrich Paulus ergibt sich.
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FOTOS (5): STEFAN SCHOLL Künstler Sergei Pelichow (links) malt die Schauplätz­e der Schlacht, Alexander Strukow hütet das Erbe der sowjetisch­en Stalingrad-Kämpfer.
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