Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Deutschland behauptet sich unter den fünf Großen
Die hiesige Wirtschaft steht aktuell nicht gut da – Doch die jüngsten Zahlen geben Anlass zur Hoffnung
BERLIN - Kriege, Inflation, Fachkräftemangel und Energiekrise: Die vergangenen beiden Jahre stellten die Wirtschaft vor enorme Herausforderungen. Entsprechend pessimistisch sind zuletzt die Konjunkturprognosen der Wirtschaftsinstitute und die Umfragen unter deutschen Firmen ausgefallen. Die Kritik an der Politik wird lauter, nicht nur aus der Wirtschaft, sondern auch aus der Bevölkerung: Die Steuerlast für Normalverdiener sei ebenso erdrückend wie die bürokratischen Anforderungen für die Unternehmen. Das Leistungsprinzip werde zunehmend ausgehöhlt. Und wirtschaftliche Probleme würden lediglich kosmetisch behandelt, und damit eher verschlimmert als gelöst. Kurzum: Die Lage ist prekär und die Stimmung mies.
Gibt es denn gar nichts, was Hoffnung schenkt in diesem neuen Jahr? Zunächst einmal beziehen sich fast alle Wirtschaftsprognosen auf kurzfristige konjunkturelle Erwartungen, die normalerweise einen Zeitraum von einem bis maximal zwei Jahren abdecken. Die öffentliche Debatte erweckt aber den Eindruck, als ließen sich Konjunkturprognosen nahezu unbegrenzt in die Zukunft fortschreiben, als wären sie kurzfristige Ausdrücke eines langfristigen Vorgangs. Das ist falsch, denn die Wirtschaft unterliegt immer gewissen Zyklen. Es gibt einen langfristigen Pfad der Entwicklung, zu dem Ausreißer immer wieder zurückkehren.
Eine langfristige Prognose hat das britische Wirtschaftsforschungsinstitut CEBR (Centre for Economics and Business Research) in der letzten Dezemberwoche 2023 gewagt. Die Experten aus London veröffentlichen seit 2009 jährlich die sogenannte „World Economic League Table“, ein Ranking von mehr als 190 Volkswirtschaften nach der Größe ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP). Diese Weltrangliste enthält einen Ausblick auf die wahrscheinliche Entwicklung der kommenden 15 Jahre. Derzeit liegt die Bundesrepublik auf dem dritten Platz der größten Volkswirtschaften der Welt, hinter den USA und China und vor Japan und Indien. In der Prognose der CEBR-Forscher soll Deutschland seinen dritten Platz im Jahr 2026 an Japan verlieren und ein Jahr später auch von Indien überholt werden.
Was zunächst wie eine weitere Hiobsbotschaft aussieht, ist aber eigentlich ein positives Zeichen: Denn die Bundesrepublik wird langfristig, bis in die späten 2030er-Jahre, zu den fünf größten Volkswirtschaften der Welt gehören. Die Tatsache, dass Deutschland von Indien überholt wird, darf nicht als deutsche Schwäche, sondern als indische Stärke verstanden werden. Die indische Volkswirtschaft legt jährlich um sechs bis sieben Prozent zu, die Mittelschicht und der privatwirtschaftliche Sektor wachsen stark und die Bevölkerung war im Jahr 2022 mit durchschnittlich 27,9 Jahren deutlich jünger als die im Schnitt 44,6 Jahre alten deutschen Bürger.
Zwischen 2015 und 2021 ist die indische Bevölkerung nach
Zahlen der Hauptabteilung Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten der Vereinten Nationen (UN DESA) von 1,323 auf 1,408 Milliarden Bürger gestiegen. Indien wuchs somit in nur sechs Jahren um mehr als die gesamte Einwohnerzahl der Bundesrepublik. Das stellt dem Land einen schier unerschöpf lichen Quell junger Fachkräfte zur Verfügung, der das Wirtschaftswachstum des Subkontinents zukünftig noch weiter beschleunigen wird.
Zwar bemängeln die CEBR-Experten das langsame Wachstum in der Bundesrepublik, das sich im kommenden Jahrzehnt bei rund 1,3 Prozent pro Jahr einpendeln soll. In der Gesamtanalyse jedoch führen die Wirtschaftsforscher den aktuellen Gegenwind auf kurzfristige, weltkonjunkturelle Ereignisse zurück, die sich in der exportlastigen deutschen Wirtschaft besonders negativ bemerkbar machen. Auch die Tatsache, dass die Bundesrepublik ihren dritten Platz an Japan verliert, ist wenig überraschend. Tatsächlich liegt Deutschland seit Jahrzehnten hinter Japan, überholte das Land aber im vergangenen Jahr. Verantwortlich dafür war aber ein Währungseffekt.
Denn die CEBR-Weltrangliste wird in US-Dollar berechnet, daher fallen nicht nur nominale Veränderungen in der Wirtschaftsleistung, sondern auch Währungsschwankungen ins Gewicht. Die japanische Zentralbank verfolgt seit Jahrzehnten eine Negativzinsstrategie, von der sie, anders als die EZB, auch in Zeiten steigender Inf lation nicht abrückte. Dadurch wertete der japanische Yen relativ zu Währungen mit stark gestiegenen Zinsen ab. Und da der Euro gegenüber dem Dollar deutlich weniger abwertete als der japanische Yen, stieg das in US-Dollar gemessene BIP Deutschlands relativ zum in US-Dollar gemessenen BIP Japans. Die Folge: Deutschland überholte Japan in der Weltrangliste, obwohl sich die tatsächliche Wirtschaftsleistung der beiden Länder nur unwesentlich veränderte. Der Verlust des dritten Platzes an Japan stellt somit eine Rückkehr zur Norm dar.
All dies zeigt: Die Bundesrepublik steht wirtschaftlich vor gewaltigen Herausforderungen und es ist höchste Zeit, die strukturellen Probleme im Land frei von Ideologie, aber mit Mut und Reformeifer anzugehen. Doch es wäre töricht, die deutsche Wirtschaft zu unterschätzen, auch wenn sie ihre Stärke zuletzt nicht wegen, sondern trotz, der deutschen Politik unter Beweis stellte.