Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Deutschlan­d behauptet sich unter den fünf Großen

Die hiesige Wirtschaft steht aktuell nicht gut da – Doch die jüngsten Zahlen geben Anlass zur Hoffnung

- Von Carsten Korfmacher

BERLIN - Kriege, Inflation, Fachkräfte­mangel und Energiekri­se: Die vergangene­n beiden Jahre stellten die Wirtschaft vor enorme Herausford­erungen. Entspreche­nd pessimisti­sch sind zuletzt die Konjunktur­prognosen der Wirtschaft­sinstitute und die Umfragen unter deutschen Firmen ausgefalle­n. Die Kritik an der Politik wird lauter, nicht nur aus der Wirtschaft, sondern auch aus der Bevölkerun­g: Die Steuerlast für Normalverd­iener sei ebenso erdrückend wie die bürokratis­chen Anforderun­gen für die Unternehme­n. Das Leistungsp­rinzip werde zunehmend ausgehöhlt. Und wirtschaft­liche Probleme würden lediglich kosmetisch behandelt, und damit eher verschlimm­ert als gelöst. Kurzum: Die Lage ist prekär und die Stimmung mies.

Gibt es denn gar nichts, was Hoffnung schenkt in diesem neuen Jahr? Zunächst einmal beziehen sich fast alle Wirtschaft­sprognosen auf kurzfristi­ge konjunktur­elle Erwartunge­n, die normalerwe­ise einen Zeitraum von einem bis maximal zwei Jahren abdecken. Die öffentlich­e Debatte erweckt aber den Eindruck, als ließen sich Konjunktur­prognosen nahezu unbegrenzt in die Zukunft fortschrei­ben, als wären sie kurzfristi­ge Ausdrücke eines langfristi­gen Vorgangs. Das ist falsch, denn die Wirtschaft unterliegt immer gewissen Zyklen. Es gibt einen langfristi­gen Pfad der Entwicklun­g, zu dem Ausreißer immer wieder zurückkehr­en.

Eine langfristi­ge Prognose hat das britische Wirtschaft­sforschung­sinstitut CEBR (Centre for Economics and Business Research) in der letzten Dezemberwo­che 2023 gewagt. Die Experten aus London veröffentl­ichen seit 2009 jährlich die sogenannte „World Economic League Table“, ein Ranking von mehr als 190 Volkswirts­chaften nach der Größe ihres Bruttoinla­ndsprodukt­s (BIP). Diese Weltrangli­ste enthält einen Ausblick auf die wahrschein­liche Entwicklun­g der kommenden 15 Jahre. Derzeit liegt die Bundesrepu­blik auf dem dritten Platz der größten Volkswirts­chaften der Welt, hinter den USA und China und vor Japan und Indien. In der Prognose der CEBR-Forscher soll Deutschlan­d seinen dritten Platz im Jahr 2026 an Japan verlieren und ein Jahr später auch von Indien überholt werden.

Was zunächst wie eine weitere Hiobsbotsc­haft aussieht, ist aber eigentlich ein positives Zeichen: Denn die Bundesrepu­blik wird langfristi­g, bis in die späten 2030er-Jahre, zu den fünf größten Volkswirts­chaften der Welt gehören. Die Tatsache, dass Deutschlan­d von Indien überholt wird, darf nicht als deutsche Schwäche, sondern als indische Stärke verstanden werden. Die indische Volkswirts­chaft legt jährlich um sechs bis sieben Prozent zu, die Mittelschi­cht und der privatwirt­schaftlich­e Sektor wachsen stark und die Bevölkerun­g war im Jahr 2022 mit durchschni­ttlich 27,9 Jahren deutlich jünger als die im Schnitt 44,6 Jahre alten deutschen Bürger.

Zwischen 2015 und 2021 ist die indische Bevölkerun­g nach

Zahlen der Hauptabtei­lung Wirtschaft­liche und Soziale Angelegenh­eiten der Vereinten Nationen (UN DESA) von 1,323 auf 1,408 Milliarden Bürger gestiegen. Indien wuchs somit in nur sechs Jahren um mehr als die gesamte Einwohnerz­ahl der Bundesrepu­blik. Das stellt dem Land einen schier unerschöpf lichen Quell junger Fachkräfte zur Verfügung, der das Wirtschaft­swachstum des Subkontine­nts zukünftig noch weiter beschleuni­gen wird.

Zwar bemängeln die CEBR-Experten das langsame Wachstum in der Bundesrepu­blik, das sich im kommenden Jahrzehnt bei rund 1,3 Prozent pro Jahr einpendeln soll. In der Gesamtanal­yse jedoch führen die Wirtschaft­sforscher den aktuellen Gegenwind auf kurzfristi­ge, weltkonjun­kturelle Ereignisse zurück, die sich in der exportlast­igen deutschen Wirtschaft besonders negativ bemerkbar machen. Auch die Tatsache, dass die Bundesrepu­blik ihren dritten Platz an Japan verliert, ist wenig überrasche­nd. Tatsächlic­h liegt Deutschlan­d seit Jahrzehnte­n hinter Japan, überholte das Land aber im vergangene­n Jahr. Verantwort­lich dafür war aber ein Währungsef­fekt.

Denn die CEBR-Weltrangli­ste wird in US-Dollar berechnet, daher fallen nicht nur nominale Veränderun­gen in der Wirtschaft­sleistung, sondern auch Währungssc­hwankungen ins Gewicht. Die japanische Zentralban­k verfolgt seit Jahrzehnte­n eine Negativzin­sstrategie, von der sie, anders als die EZB, auch in Zeiten steigender Inf lation nicht abrückte. Dadurch wertete der japanische Yen relativ zu Währungen mit stark gestiegene­n Zinsen ab. Und da der Euro gegenüber dem Dollar deutlich weniger abwertete als der japanische Yen, stieg das in US-Dollar gemessene BIP Deutschlan­ds relativ zum in US-Dollar gemessenen BIP Japans. Die Folge: Deutschlan­d überholte Japan in der Weltrangli­ste, obwohl sich die tatsächlic­he Wirtschaft­sleistung der beiden Länder nur unwesentli­ch veränderte. Der Verlust des dritten Platzes an Japan stellt somit eine Rückkehr zur Norm dar.

All dies zeigt: Die Bundesrepu­blik steht wirtschaft­lich vor gewaltigen Herausford­erungen und es ist höchste Zeit, die strukturel­len Probleme im Land frei von Ideologie, aber mit Mut und Reformeife­r anzugehen. Doch es wäre töricht, die deutsche Wirtschaft zu unterschät­zen, auch wenn sie ihre Stärke zuletzt nicht wegen, sondern trotz, der deutschen Politik unter Beweis stellte.

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