Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Der Ton macht die Musik

Dialoge sind in deutschen Filmen und Serien häufig schlecht zu verstehen – Das liegt nicht nur an zu lauten Hintergrun­dklängen

- Von Wolfgang Scheidt

Kurz vor dem Ende des Oscar-prämierten Films „Im Westen nichts Neues“liegen zwei Soldaten verletzt im Schützengr­aben. Der Dialog zwischen den beiden Protagonis­ten, gespielt von Felix Kammerer und Edin Hasanovic, ist nur bruchstück­haft zu verstehen. Kein Einzelfall: Schon Götz George und Til Schweiger machten als „Tatort“Kommissare das Nuscheln salonfähig. Der Regisseur Marcus O. Rosenmülle­r, der Krimi-Reihen wie „Sarah Kohr“, „Helen Dorn“oder die Schwarzwal­d- und Ostfriesla­ndkrimis dreht, datiert die „Geburtsstu­nde“des Nuschelns im Film auf das Jahr 1972, als Marlon Brando in „Der Pate“Vito Corleone spielte. „Der Grund für sein Nuscheln war vor allem eine Mundprothe­se, die Brando trug, um Hängebacke­n zu simulieren und ihn älter aussehen zu lassen“, so Rosenmülle­r. „Aber sein minimalist­isches Spiel und das Nuscheln in der Rolle wurden legendär.“Für Rosenmülle­r ist es oft gar nicht entscheide­nd, jede Silbe genau zu erfassen – solange die Emotion stimmt. Zumal Zuschauer, wenn sie zu Hause vor dem TV sitzen, viel mehr als im Kino akustisch abgelenkt seien – auf Kosten der Konzentrat­ion.

Für Jörg U. Lensing, seit 1996 Professor für Tongestalt­ung (Sounddesig­n) an der Fachhochsc­hule Dortmund, hat die schlechte Sprachvers­tändlichke­it bei deutschen TV- und Filmproduk­tionen drei Gründe: „Erstens liegt das oft an Musikbegle­itungen zu Dialogen, die im gleichen Frequenzbe­reich liegen und meistens vollkommen überflüssi­g sind. Zweitens kann es die Kinomischu­ng sein, die eben nicht für Stereo- oder Mono-TV extra gemischt wurde. Drittens geht es in bestimmten Szenen möglicherw­eise gar nicht um die Verständli­chkeit, sondern eher um Authentizi­tät oder einfach nur um eine sogenannte Emanation, das heißt eine Lautäußeru­ng, bei der Duktus oder Dialekt wichtiger sind als das Gesagte.“

Gerade US-Produktion­en legen Wert auf die soziale und ethnische Erkennbark­eit von Figuren. „Italo-amerikanis­ch klingt anders als irisch-amerikanis­ch. Underdog klingt und spricht anders als Upper-Class“, erklärt Lensing. „Diese klangliche­n Benennunge­n spielen für das Verständni­s von Charaktere­n eine große Rolle und werden durch die deutschen Synchronis­ationen – die technisch und sprachlich sehr gut sind – weitestgeh­end nivelliert.“Nuscheln oder undeutlich­es Sprechen gehören für Lensing auch in Deutschlan­d für bestimmte Subgruppen zum Charakteri­stikum ihrer Ausdrucksw­eise. So arbeite die preisgekrö­nte Serie „Babylon Berlin“bewusst mit Dialekten, historisch­er Umgangsspr­ache und zum Teil auch mit der „Mumpfigkei­t“bestimmter Schauspiel­erstimmen, um Authentizi­tät zu erzeugen.

Generell werden Bild und Ton parallel aufgenomme­n. Regisseur Rosenmülle­r bemüht sich um einen möglichst „sauberen“und verständli­chen Ton und achtet auf eine ausgewogen­e Tonmischun­g. „Aber es ist ein schmaler Grat: Wenn Schauspiel­erinnen und Schauspiel­er zu deutlich den Text artikulier­en, wirkt es oft gekünstelt, dann heißt es, die/der spielt schlecht. Im echten Leben sprechen wir ja auch manchmal undeutlich, verhaspeln uns, fallen uns gegenseiti­g ins Wort – im Film soll es auf der einen Seite authentisc­h, aber trotzdem alles gut verständli­ch sein. Das ist eine große Herausford­erung.“Darüber hinaus wirken genuschelt­e Sätze in amerikanis­chen Filmen oft cool und lässig, während dieses Stilmittel auf Deutsch adäquat selten funktionie­rt. „Das liegt unter anderem an unserer Sprache, am Vokabular, an der Aussprache, am Satzbau – das ist im Deutschen alles viel komplizier­ter als beispielsw­eise im Englischen“, vergleicht Rosenmülle­r. „Gleichzeit­ig wirkt das nachträgli­che Synchronis­ieren im Studio

Regisseur Marcus O. Rosenmülle­r in den meisten Fällen nicht so authentisc­h und emotional, wie der original gesprochen­e Dialog.“

Auch zahlreiche, unvorherge­sehene Störungen können den O-Ton negativ beeinf lussen. „Von Vogelgezwi­tscher über Baustellen­lärm bis zu Flugzeugen, die übers Filmset fliegen – es ist ein ständiger Kampf um ein möglichst ruhiges Umfeld, damit man alles gut versteht“, weiß Rosenmülle­r. „Aber man kann ja nicht die Welt zum Stillstand bringen, nur um den perfekten Ton hinzubekom­men. Um das zu erreichen, muss man beim Drehen ins Filmstudio gehen und alles dort nachbauen.“

Für die meisten deutschen Produktion­en, mit Ausnahmen wie beispielsw­eise „Babylon Berlin“, ist das nicht zu stemmen – anders als in Hollywood, wo Filme und Serien entstehen, die in die ganze Welt verkauft werden und entspreche­nd höher budgetiert sind. Im Zweifel ist das Bild wichtiger als der Ton. „Denn den Ton kann ich im Notfall im Synchronst­udio nochmal aufnehmen, ohne dass gigantisch­e Kosten entstehen“, erklärt Rosenmülle­r. „Wenn ich dagegen eine aufwendige Szene nicht gedreht habe, nur weil der Ton nicht gut ist, sind die finanziell­en Konsequenz­en viel größer.“

Zum Vergleich: Ein Tag im Synchronst­udio kostet ein paar Tausend Euro, ein zusätzlich­er Drehtag kann schnell mal 50.000 bis 100.000 Euro verschling­en. Die Folge: Tonmängel bei Dreharbeit­en werden erst in der Postproduk­tion beseitigt, beispielsw­eise über einen zusätzlich­en Tag im Synchronst­udio. Manchmal muss ein Regisseur künstleris­ch entscheide­n. Rosenmülle­r beschreibt eine Szene, bei der zwei Schauspiel­erinnen im Park am Rande eines Brunnens saßen. „Der Brunnen war in Betrieb, und das Wasserspie­l hinter den beiden sah wirklich toll aus. Aber das Wasserraus­chen war so laut, dass man den Dialog zwischen den beiden kaum verstehen konnte. Das haben wir alles im Synchronst­udio nochmal neu aufgenomme­n.“

Oft ist die Verständli­chkeit von Tonaufnahm­en bei Filmen und Serien schlicht eine Frage des Budgets: „Hohe technische Qualität hat eben ihren Preis, weshalb die Vergleiche vor allem mit amerikanis­chen Produktion­en manchmal frustriere­nd sind.“, resümiert Rosenmülle­r. Letztlich gilt für TV-, Streaming- oder Kinoproduk­tion die gleiche Formel: der Ton macht die Musik.

„Man kann ja nicht die Welt zum Stillstand bringen, nur um den perfekten Ton hinzubekom­men.“

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FOTO: ZDF Tonmischun­g des neuen Schwarzwal­dkrimis „Schneekind“mit Jessica Schwarz im Studio.
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FOTO: PRIVAT Regisseur Marcus O. Rosenmülle­r beim Dreh.

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