Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Behörden waren vorgewarnt

Neue Details zum Mord an 18-Jähriger - Opfer hatte Mitschüler bereits angezeigt

- Von Nico Pointner, Marco Krefting und Martin Overs

ST. LEON-ROT (dpa) - Nach dem tödlichen Messerangr­iff auf eine Schülerin nahe Heidelberg untersuche­n die Ermittler die Vorgeschic­hte des Opfers und des mutmaßlich­en Täters. Gegen den Beschuldig­ten hatte die Schülerin bereits im November Strafanzei­ge wegen vorsätzlic­her Körperverl­etzung gestellt. Wie Staatsanwa­ltschaft und Polizei am Freitag mitteilten, hatten Polizei, Schule und Jugendamt den 18-Jährigen deshalb bereits im Blick gehabt. Der Verdächtig­e sitzt nun in Untersuchu­ngshaft. Im Rathaus drückte der Schulleite­r, Dirk Lutschewit­z, den Angehörige­n der Schülerin sein Beileid aus.

Der 18 Jahre alte Deutsche desselben Gymnasiums in St. LeonRot steht unter Verdacht, das gleichaltr­ige Opfer am Donnerstag mit einem Messer in der Schule umgebracht zu haben. Er war nach dem Tod der Schülerin mit dem Auto gef lohen und kurze Zeit später in Niedersach­sen festgenomm­en worden. Nach aktuellen Erkenntnis­sen waren das Opfer und der mutmaßlich­e Täter im Jahr 2023 zeitweilig liiert. Zum Zeitpunkt der Tat sei die Beziehung jedoch bereits beendet gewesen, teilte die Staatsanwa­ltschaft weiter mit.

Die Polizei habe nach der Anzeige der Schülerin den Beschuldig­ten und Zeugen vernommen. Wenige Tage nach dem Vorfall sowie Mitte Dezember 2023 hätten die Beamten zudem sogenannte Gefährdera­nsprachen gehalten, so die Staatsanwa­ltschaft. Die Polizei hatte den Angaben zufolge auch Kontakt zum Jugendamt und der Schulleitu­ng aufgenomme­n in der Sache. Ein gerichtlic­h angeordnet­es Kontaktver­bot gab es demzufolge nicht. Aber die Schule habe „Maßnahmen der Kontaktbes­chränkung im Schulbetri­eb“getroffen.

Die Schule habe sich nach der Anzeige der Schülerin mit der Polizei abgestimmt, teilte der Kommunikat­ionsexpert­e Dirk Metz am Freitag im Rathaus der Gemeinde

mit. Metz war von der Schule nach der Gewalttat am Donnerstag beauftragt worden. Nach sorgfältig­er Abwägung seien Vereinbaru­ngen getroffen worden, dass die beiden Personen sich möglichst nicht mehr begegneten, sagte Metz. „Das war das Hauptziel.“Zuletzt hätten alle Beteiligte­n den Eindruck gehabt, dass sich die Dinge beruhigt hätten. Aber: „Hundertpro­zentige Sicherheit gibt es halt nicht“, sagte Metz.

Die Anzeige der Schülerin sei noch nicht der Staatsanwa­ltschaft vorgelegt worden, nur die Polizei habe in dem Fall ermittelt, sagte ein Sprecher der Anklagebeh­örde.

Nun sitzt der 18-Jährige in Untersuchu­ngshaft. Er sei der zuständige­n Haftrichte­rin des Amtsgerich­ts Heidelberg vorgeführt worden, so die Staatsanwa­ltschaft. Sie habe Haftbefehl wegen Mordes erlassen und in Vollzug gesetzt. Anschließe­nd sei der junge Mann in eine Justizvoll­zugseinric­htung gebracht worden.

Staatsanwa­ltschaft und Polizei teilten mit, dass der Verdächtig­e am Donnerstag zunächst mit einem Fahrzeug vom Tatort in Richtung Norddeutsc­hland gef lohen sei. Nach der Ortung des Fahrzeugs sei es den Beamten gelungen, die Verfolgung aufzunehme­n. Der Beschuldig­te sei „zeitweise mit sehr hoher Geschwindi­gkeit“vor den Polizeikrä­ften geflohen und habe schließlic­h einen Unfall mit einem unbeteilig­ten Fahrzeug gebaut. Sowohl der 18-Jährige als auch der Fahrer des anderen Fahrzeugs seien verletzt worden. Beide seien zunächst in umliegende Krankenhäu­ser gebracht worden.

Die Ermittler hatten bereits am Donnerstag wiederholt davon gesprochen, dass sie von einer Beziehungs­tat ausgehen. Mit dem Begriff „Beziehungs­tat“wollen Ermittler oft lediglich ausdrücken, dass sich Opfer und Täter kannten, es sich also nicht um ein Zufallsopf­er des Täters handelte. Auf die Frage, ob es sich bei der Tat um einen sogenannte­n Femizid handle, konnte der Sprecher der Staatsanwa­ltschaft keine Angaben machen. Er sagte aber: „Der Begriff Beziehungs­tat war zumindest nicht beschönige­nd gemeint. Da gibt es nichts zu beschönige­n.“Femizid bedeutet, dass Frauen aufgrund ihres Geschlecht­s getötet werden – also weil sie Frauen sind.

Als häufigste Form gilt die Tötung von Frauen durch Partner oder ExPartner. Schulleite­r Dirk Lutschewit­z sagte am Freitag, dass die Tat alle sehr erschütter­t habe. „Seit gestern ist nichts mehr so wie vorher.“An Normalität sei derzeit in der Schulgemei­nschaft nicht zu denken. Die stellvertr­etende Bürgermeis­terin von St. Leon-Rot, Anneliese Runde, sprach von einem riesigen Schock für die Schulgemei­nschaft und die gesamte Gemeinde. „Wir sind immer noch fassungslo­s“, sagte sie.

„Natürlich ist jeder Fall einer zu viel“, sagte Klaus Seifried vom Berufsverb­and Deutscher Psychologi­nnen und Psychologe­n (BDP). „Aber wenn man Deutschlan­d mit den USA vergleicht, ist Deutschlan­d absolut friedlich.“Gewalt unter Kindern und Jugendlich­en hat nach Einschätzu­ng von Sibylle Winter nicht zuletzt infolge der Corona-Pandemie zugenommen. Das zeige sich sehr selten in schwerster Gewalt, sagte die stellvertr­etende Klinikdire­ktorin und leitende Oberärztin der Klinik für Psychiatri­e, Psychosoma­tik und Psychother­apie des Kindes- und Jugendalte­rs an der Berliner Charité.

 ?? FOTO: MARTIN DZIADEK/IMAGO ?? Nach der Tat in St. Leon-Rot hat der mutmaßlich­e Täter auf der Flucht vor der Polizei einen schweren Unfall in Niedersach­sen verursacht.
FOTO: MARTIN DZIADEK/IMAGO Nach der Tat in St. Leon-Rot hat der mutmaßlich­e Täter auf der Flucht vor der Polizei einen schweren Unfall in Niedersach­sen verursacht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany