Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Wenn Henry raucht
Wann wird man schon mal beim Betreten einer Ausstellung mit Froschgequake empfangen? Konstanz macht es möglich. Im Archäologischen Landesmuseum muss man zunächst durch eine Schleuse, und da ertönt allerlei Getier. Dieser Gag kommt nicht von ungefähr: Ein frühbarockes Gemälde im Münster von Mittelzell zeigt den heiligen Pirmin 724 bei der Ankunft auf der Insel Reichenau von der heutigen Schweiz her. Derweil machen sich Drachen, Schlangen, Kröten, Molche, Frösche in wilder Flucht vor Gottes Wort in Richtung heutiges Deutschland davon – mit unbekanntem Verbleib. Eidgenossen zitieren genüsslich diese Legende …
1300 Jahre sind seither vergangen, und nun wurden insgesamt sieben Millionen investiert, um dieses Jubiläum gebührend zu feiern – so viel wie noch nie für eine Große Landesausstellung. Im Verbund sorgen Badisches Landesmuseum, Badische Landesbibliothek, Landesarchiv Baden-Württemberg, Generallandesarchiv und Archäologiemuseum sowie hochmögende Stifter dafür, dass die frühe Blütezeit dieses Klosters auf spektakuläre Weise gespiegelt wird – so wie sie es verdient.
Denn allein schon der rasche Aufschwung der von Pirmin gegründeten benediktinischen Mönchsgemeinschaft war singulär. Wobei er nicht von ungefähr kam: Die Karolinger förderten das junge Kloster und seine Äbte nach Kräften. Waldo erzog um 800 Pippin, den Sohn von Kaiser Karl dem Großen. Nachfolger Heito reiste für seinen Freund Karl 811 bis nach Byzanz. Walahfrid Strabo sorgte für eine erste Blüte der Wissenschaft, bis er auf dem Weg zu seinem kaiserlichen Schüler Karl dem Kahlen 849 in der Loire ertrank. Hatto III. war um 900 zugleich Erzbischof von Mainz und Reichskanzler. Und unter dem kunstsinnigen Witigowo erreichte die Buchmalerei der Reichenau kurz vor 1000 ihren Höhepunkt.
Jene Malermönche und ihr grandioser Buchschmuck stehen im Zentrum der aus dem In- und Ausland fantastisch bestückten Schau. Wobei man immer im Auge haben muss, dass diese Raritäten, die wir heute als Kunstwerke bestaunen, primär liturgische Werke waren, gefertigt zur Ehre Gottes. 16 Prachthandschriften sind da, darunter fünf der zehn im Jahr 2003 in das WeltdokumentenErbe aufgenommenen, besonders kostbaren Exemplare. Ihr Stil ist extraordinär: wohl auf Vorbilder zurückgreifend, aber mit sehr eigenwilliger Note, mit klarem Bildaufbau, festen Konturen, feierlichen Gebärden, und das alles in einer ungemein aparten Farbgebung. Werke wie das Poussay-Evangelistar aus Paris, das Liuthar-Evangeliar aus Aachen oder den Egbert-Codex hier nun im Schummerlicht liegen zu sehen, ist ein Erlebnis. Dass der mächtige Trierer Erzbischof Egbert seine Bücher auf der weit abgelegenen Reichenau bestellte, spricht auch für sich.
Drumherum werden nun alle Register gezogen, um uns Heutigen klarzumachen, welch hohen geistigen und kulturellen Rang dieses Kloster im Europa des frühen Mittelalters hatte. Handschriften zu den verschiedensten Themen, Goldschmiedeschmuck, Elfenbeinarbeiten, Glasmalerei, Gemälde, Skulpturen spiegeln eine aufgeklärte Universalität, die so gar nicht zum Bild vom finsteren Mittelalter passt, das immer noch durch manche Köpfe geistert. Nicht umsonst taucht an den Wänden als Leitfigur immer wieder jener Abt Walahfrid Strabo auf – symbolisch für die geistige Offenheit dieser Mönche, denn er war Benediktiner,
Politiker, Lehrer, Hymnendichter zugleich, und das erste deutsche Buch zum Gartenbau schrieb er auch noch.
Die Vernetzung der Reichenau mit der damaligen Welt zeigt sich besonders im „Verbrüderungsbuch“, heute in Zürich, das 823 begonnen und über Jahrhunderte weitergeführt wurde. Es enthält 38.000 Namen und diente der Verpflichtung von rund 100 Klostergemeinschaften – von Skandinavien bis Nordafrika – zum gegenseitigen Gedenken im Gebet. Daneben wird man mit Heiligen wie Pirmin, Fridolin oder Verena und ihrer Vorbildfunktion vertraut gemacht, erhält Einblicke in das straff durchgetaktete religiöse Leben der Klosterinsassen, in ihren breit gefächerten Bildungskanon, in die von ihnen geschaffene Literatur, aber auch in ihren Alltag. Besonders anrührend ein kleiner, in Mittelzell ausgegrabener Elfenbeinwürfel. Bei aller Versenkung ins Gebet war wohl doch ab und an ein Spielchen angesagt. Und es gibt auch Geheimnisvolles: Man darf rätseln, was wohl im Fußreliquiar des Andreas-Tragaltars aus Trier verborgen ist. Das übrigens exzellent gemachte Begleitbuch verrät es: die Schuhsohle des Apostels …
Die Utensilien für ein Skriptorium werden vorgestellt, vom Pergament bis zum Farbmaterial. Der berühmte, auf der Reichenau um 820/ 30 entstandene und nicht ausleihbare St. Galler Klosterplan ist auch in absentia ein wichtiges Thema. Und natürlich findet Hermann der Lahme die ihm gebührende Beachtung, jener Grafensohn aus Altshausen, den man getrost einen Stephen Hawking seiner Zeit nennen darf. Als Astronomen kennen wir ihn, als Geschichtsschreiber, Theologen, Erfinder, Musikwissenschaftler, Komponisten, Instrumentenbauer – und das alles trotz einer schlimmen Behinderung. Wahrscheinlich wurde er 1013 als hochgradiger Spastiker geboren, konnte kaum sprechen und musste stets getragen werden …
Von solchen Figuren lebt die Geschichte dieses außergewöhnlichen Klosters – eines Hotspots des Geisteslebens, wie man heute sagen würde. Aber zu dieser Geschichte gehört auch ihr unrühmliches Ende. Lebten um 820 noch 110 Mönche in der Klausur, so waren es – vor allem wegen Misswirtschaft – im Jahr 1508 nur noch zwei. 1540 wurde die Abtei zum Priorat des Bischofs von Konstanz herabgestuft und nach kurzer Wiederbelebung im frühen 18. Jahrhundert endgültig aufgelöst – also noch vor der Säkularisation. Unermessliche Schätze gingen verloren.
Aber das ist letztlich eine Marginalie in dieser fulminanten Schau. Im Vordergrund steht die Glanzzeit der Abtei, und die wird im Archäologischen Museum, das sich angesichts der immens wertvollen Exponate wegen seiner Sicherheitstechnik anbot, souverän herausgestrichen. Unter anderem durch die noble Ausstellungsarchitektur. Puristen mögen den Kopf schütteln, weil für die Wandgestaltung Ornamente aus den Handschriften bemüht wurden, aber es hat etwas Schickes. Ohnehin ist das Anliegen erkennbar, mit dieser Präsentation gezielt interessierte Laien anzusprechen. Das zeigt sich auch in den verständlich gehaltenen Wandtexten – mitunter fast eine Spur zu schlicht.
Die Macher gaben sich zudem alle Mühe, medial auf der Höhe zu sein und damit auch attraktiv für jüngere Besucher. Es gibt einen SmartphoneGuide mit Push-up-Funktionen sowie einen Podcast mit Vorträgen. Nicht zuletzt informiert die Homepage über das üppige und hochinteressante Begleitprogramm.
Wer nun aber nur diese Ausstellung in Konstanz besucht, geht quasi auf einem Bein nach Hause. Die Fahrt über die Insel zu den altehrwürdigen romanischen Kirchen St. Georg Oberzell, Münster Mittelzell und St. Peter und Paul Niederzell gehört unbedingt dazu. Es sind nur sieben Kilometer, und dort erlebt man die Reichenauer Spiritualität in Reinkultur, unterstützt noch durch eine neue, anregende MultimedialWelterbe-Präsentation des Badischen Landesmuseums im Museum von Mittelzell.
Das Gesamtpaket „1300 Jahre Reichenau“bringt uns die Gedankenwelt jener fernen Zeit auf wunderbare Weise näher. Aber es lohnt sich im Nachgang auch, direkt in die Originalwerke ihrer Protagonisten einzutauchen. So schrieb sich der 17-jährige Walahfrid, als er 827 zur klösterlichen Vervollkommnung ins ferne, eisige Fulda geschickt wurde, in gedrechselten lateinischen Versen sein Heimweh von der Seele: „Beißende Kälte fällt die Blöße an, die Hände werden nicht mehr warm, die Füße bekommen eine Gänsehaut, und das Gesicht erschauert vor dem strengen Winter. Siehe, es brechen Tränen mir hervor, wenn ich mich daran erinnere, welch gute Ruhe ich einst genoss, als mir ein Dach bot die glückliche Reichenau.“
Auch derzeit hat die Reichenau allen Grund, glücklich zu sein.
Bis 20. Oktober im Archäologischen Museum Konstanz. Begleitband mit 600 Seiten und 600 Abbildungen, € 35. www.ausstellung-reichenau.de und www.reichenau-tourismus.de.
„Polizeiruf 110: Der Dicke liebt“(So., ARD, 20.15 Uhr) - Kommissar Henry Koitzsch hat ein Problem. Er fährt besoffen Auto und macht eine kuriose Gesprächstherapie mit Zitaten aus Jack Londons „König Alkohol“. Sein unnachahmlich resignierter Blick ist eine Spezialität von Charakterkopf Peter Kurth in der Rolle des melancholischen Haudegens aus Halle. Wenn Koitzsch schon nichts trinken darf, muss er wenigstens rauchen im finsteren Kellerbüro, das er mit dem frommen Kollegen Michi Lehmann (Peter Schneider) teilt. Genüsslich inszeniert Regisseur Thomas Stuber das heutzutage gänzlich unkorrekte Verhalten. Schwer geht der Atem des alten Kripomanns. Aber seine kriminalistischen Instinkte funktionieren. Die achtjährige Inka ist verschwunden, wird tot aufgefunden. Genickbruch, Schürfwunden, Quetschungen: ein Triebtäter war’s, vermutlich übergewichtig. So wie der einsame, von Schülern gehänselte Mathelehrer Krein (erschütternd: Sascha Nathan), dessen seltsame Kuscheltiersammlung den Zuschauern schon früh gezeigt wird. Die Kommissare verhören erst einmal die üblichen Verdächtigen aus dem Kinderschänder-Milieu. Ganz fiese Typen. Aber das heißt ja nichts. Behutsam folgen die Kommissare zwischen Lauben und muffigen Mietskasernen den Spuren der kleinen Inka, ihren Wegen, Gewohnheiten. Eine durchgeknallte Bürgerwehr jagt derweil den Mathelehrer und prügelt ihn in die Verzweiflung, obwohl seine Schülerin Julie versichert: „Der Herr Krein war immer lieb.“Das Böse, stellt sich wieder einmal heraus, kann sich gut verbergen. Ein starker, sensibler Krimi, der sich angenehm viel Zeit lässt, die Dinge klarzustellen.