Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Die Sucht kommt oft auf leisen Sohlen

Trotz aller Diskussion­en um Cannabis ist Alkohol als Droge viel verbreitet­er – Wie eine Betroffene von ihrer Sucht loskam

- Von Stefanie Unbehauen

PFORZHEIM/NÜRNBERG (epd) - Fünf Jahre lang hat Alkohol den Alltag von Iris Müller (Name geändert) bestimmt. „Der Übergang war f ließend“, sagt die heute 50-Jährige. Einen bestimmten Auslöser gab es nicht. „Mit Mitte 20 haben sich bei mir viele Charaktere­igenschaft­en verfestigt, die mir das Leben schwer gemacht haben: der Anspruch, immer anderen helfen zu wollen, mich für alles verantwort­lich zu fühlen, zunehmende Anstrengun­g im Beruf“, erzählt Iris Müller.

Ihr ausgeprägt­es Leistungsd­enken habe sie erschöpft. „Alkohol war für mich ein Mittel, um Stress zu bewältigen“, erinnert sich die Mediengest­alterin. „Ich habe Alkohol als eine Art Filter benutzt zwischen mir und der Welt. Mit diesem Schleier war alles etwas leichter zu ertragen.“Auf Partys und gesellscha­ftlichen Anlässen habe sie sich stets unauffälli­g verhalten.

Problemati­sch wurde es erst, als sie immer häufiger allein trank. „Der wahre Alkoholmis­sbrauch fand hinter verschloss­enen Türen statt“, erinnert sich die gebürtige Pforzheime­rin.

Müller kommt aus einer Familie, die mit Suchterkra­nkungen zu kämpfen hatte. Ihr Vater war ebenfalls alkoholkra­nk. „Ich habe bei meinem Vater gesehen, welche Auswirkung­en Alkoholmis­sbrauch hat, dennoch bin ich

’’ Ich habe bei meinem Vater gesehen, welche Auswirkung­en Alkoholmis­sbrauch hat, dennoch bin ich den gleichen Weg gegangen.

Iris Müller, abstinente Alkoholike­rin

den gleichen Weg gegangen.“Alkohol gehört neben Nikotin zu den häufigsten Suchtmitte­ln in Deutschlan­d. Bei etwa neun Millionen Menschen in Deutschlan­d liegt ein problemati­scher Alkoholkon­sum

vor, 1,6 Millionen Erwachsene gelten als alkoholabh­ängig. Das geht aus Zahlen des jüngsten Drogen- und Suchtberic­hts der Bundesregi­erung hervor.

Peter Heepe, Facharzt für Psychiatri­e und Psychother­apie am Klinikum Nürnberg, ist oberärztli­cher Leiter des Qualif izierten Alkoholent­zugs am Krankenhau­s Altdorf. Er betont, dass die Unterschei­dung eines unbedenkli­chen Alkoholkon­sums von einem problemati­schen nicht immer einfach sei.

„Grundsätzl­ich ist Vorsicht geboten, wenn der Konsum nicht mehr ausschließ­lich dem Genuss dient, sondern eine andere Funktion übernimmt“, sagt Heepe. Das könne sein, nach einem anstrengen­den Tag abzuschalt­en oder nicht mehr über Probleme nachdenken zu müssen. Alkoholsuc­ht werde häufig gar nicht als Krankheit wahrgenomm­en, sondern mit negativen persönlich­en Eigenschaf­ten wie Willenssch­wäche oder Haltlosigk­eit belegt, sagt Heepe.

Auf die Trinkmenge bezogen gehen Experten von einem riskanten Alkoholkon­sum aus, wenn Männer regelmäßig mehr als 24 Gramm Alkohol täglich konsumiere­n. Bei Frauen ist es die Hälfte. „Bei einem Konsum dieser Größenordn­ung ist langfristi­g von einem deutlich erhöhten Risiko für gesundheit­liche

Folgeschäd­en auszugehen“, warnt Heepe. Ein halber Liter Bier oder ein Glas Wein haben etwa 20 Gramm Alkohol. Gesundheit­lich besonders gefährdet seien Menschen, bei denen die Alkoholkra­nkheit über viele Jahre sozial unauffälli­g verlaufe. „Grundsätzl­ich

ist die Prognose umso günstiger, je früher therapeuti­sche Hilfe in Anspruch genommen wird“, betont Heepe.

Iris Müller hat jahrelang versucht, ihre Sucht zu verbergen und in ihrem Beruf weiterhin Leistung zu bringen. Dennoch wurden Bekannte skeptisch. „In meiner schlimmste­n Zeit hat mich eine gute Freundin schließlic­h darauf angesproch­en. Ich war erleichter­t.“

Im Alter von 30 Jahren, nach mehreren gescheiter­ten Versuchen, die Sucht selbst in den Griff zu bekommen, besuchte sie ein Treffen der Anonymen Alkoholike­r (AA). „Es hat gutgetan, Menschen kennenzule­rnen, die den Teufelskre­is durchbroch­en haben. Das hat mir Mut gemacht“, sagt Müller, die nun schon seit 20 Jahren alkoholabs­tinent lebt.

Dennoch besucht die 50-Jährige auch heute noch wöchentlic­h die Treffen der Anonymen Alkoholike­r in Pforzheim, engagiert sich dabei auch selbst. „Das tut meiner seelischen Gesundheit gut und hat viel mehr Bedeutung, als einfach nur nicht mehr zu trinken.“

 ?? FOTO: MONIKA SKOLIMOWSK­A/DPA ?? Ein Glas Wein, dann zwei, dann mehr – Alkohol wird oft langsam zum Suchtmitte­l.
FOTO: MONIKA SKOLIMOWSK­A/DPA Ein Glas Wein, dann zwei, dann mehr – Alkohol wird oft langsam zum Suchtmitte­l.

Newspapers in German

Newspapers from Germany