Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Mama kann nicht mehr
Elternsein bedeutet das größte Glück. Und führt Mütter trotzdem immer häufiger an ihre Belastungsgrenze. Die Folgen sind Depressionen und Burn-out. Zwei betroffene Frauen berichten.
RAVENSBURG - Anfang des Jahres war es wieder soweit, Anna Webers Tochter lebte ihre Autonomiephase aus. Das Umgangswort dafür lautet: Trotzphase. Die Dreijährige kannte von morgens bis abends auf alles nur eine einzige Antwort: „Nein!“Eine ständige Gegenwehr, die bei der Mutter, zudem einer alleinerziehenden wie Weber, den inneren Druck stetig erhöhte. „Das ist wie bei einem Staudamm, gegen den man sich stemmt, damit er nicht bricht“, erklärt die 33-jährige Ravensburgerin. Doch irgendwann verließen sie die Kräfte – und der Damm brach. „Ich erlitt einen Nervenzusammenbruch und habe nur noch geheult“. Zudem bekam sie Magen-Darm-Beschwerden und hatte Blut im Stuhl. Ob Körper oder Seele, nichts ging mehr.
Burn-out ist ein vager Begriff für einen Erschöpfungszustand, für Symptome wie innere Unruhe, Ängste und Ausgebranntsein, oder auch Kopfschmerzen, Herzrasen und Migräne. Für ein Gefühl der Überforderung, das immer mehr Mütter trifft. Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage im Auftrag der KKH Kaufmännischen Krankenkasse fühlen sich 62 Prozent der Eltern mit minderjährigen Kindern häufig oder sogar sehr häufig gestresst. Zwei Drittel sagen, der Stress habe in den vergangenen ein bis zwei Jahren zugenommen. Alarmierend: Fast 70 Prozent der befragten Eltern sind infolge hoher Belastungen mitunter erschöpft oder ausgebrannt. „Der große Anstieg ist ein Warnsignal. Wir müssen diese Entwicklung sehr ernst nehmen“, erklärt Aileen Könitz, KKHExpertin für psychiatrische Fragen. „Dauerstress kann unsere Gesundheit stark beeinträchtigen, da er häufig ein anhaltendes Gefühl der Hilf losigkeit, Überforderung oder gar Verzweiflung hinterlässt.“
Längst ist die Rede von Elternoder Mütter-Burn-out, das Anna Weber (die hier anonymisiert erscheint) phasenweise ereilt, wie sie beim Gruppentreff „Tandem plus“in Ravensburg berichtet.
Das Angebot des Jugendamtes, das es auch in Amtzell, Bad Wurzach, Isny, Leutkirch, Wangen und Weingarten gibt, richtet sich an Mütter, Patchworkfamilien und Alleinerziehende. Anna Weber hat sich von ihrem Partner getrennt, weil für sie das Versprechen einer Partnerschaft nicht mehr erfüllt war. „Es hieß immer, er muss arbeiten, er muss Geld verdienen, aber wie ich klar komme, war ihm völlig egal.“Geld muss allerdings auch die Mutter verdienen, die im Gesundheitsbereich arbeitet und zudem die Verantwortung für ein kleines Kind trägt. „Ich fühle mich getrieben, ich will alles schaffen und eine gute Mutter sein. Ich will gut arbeiten und niemandem auf der Tasche liegen. Da muss ich Vollgas geben.“Bis die Energie irgendwann ausgeht.
„Die Arbeit, die Eltern und insbesondere Alleinerziehende leisten, wird von der Gesellschaft immer noch unterschätzt“, sagt KKH-Expertin Könitz. Und von den Betroffenen oft ebenfalls. Denn was wir als stressig empfinden und wann, ist subjektiv und auch abhängig von der Fähigkeit, mit Druck umzugehen, erklärt
Könitz. „Fakt ist aber: Wer hohe Belastungen dauerhaft ignoriert, wird krank.“
Das musste auch Clara Böhm erkennen, auch sie ist alleinerziehend mit Kindern im Alter von fünf und sieben Jahren, auch sie möchte anonym bleiben. „Dass ich Hilfe brauche, habe ich erst festgestellt, als es fast zu spät war“, erzählt die 34-Jährige im Familientreff. Vor zwei Jahren musste sie sich dann eingestehen, dass es emotional stetig bergab ging und sie an Depressionen litt. „Ich war geistig abwesend und konnte keine Gefühle mehr äußern, weder Freude noch Trauer. Ich war nur noch eine Hülle.“Inzwischen fühlt sie sich deutlich stabiler, die Anspannungen aber bleiben.
„Ich bin oft sehr gereizt, leider auch gegenüber meinen Kindern“, sagt Böhm, die im Verlagswesen arbeitet. Doch nach wenig Schlaf, nach einem stressigen Morgen und nach stressiger Arbeit, nach Schule und Kita, nach Einkaufen und Kochen, reicht manchmal ein einziges Wort, damit die Stimmung kippt. „Die Zündschnur ist dann sehr kurz.“
Vor allem wenn plötzlich Hilfe ausbleibt, wie letztes Jahr, als der
Aileen Könitz von der Kaufmännischen Krankenkasse
Vater einen Kindergeburtstag vergaß. „Das war der Horror“, erzählt Böhm. „Mein Kind liebt Geburtstage zu Hause. Aber heute ist es ja Mode, Geburtstage groß zu feiern. Mit zehn bis 15 Kindern, die zur Bowlingbahn oder zum Bogenschießen wollen, Hauptsache Action“, sagt die Zweifachmutter. „Wenn man damit allein gelassen wird, ist es hart.“
Nun nehmen viele Väter, auch nach einer Trennung, ihre Verantwortung sehr ernst. Nachholbedarf besteht oft aber trotzdem, finden die beiden Frauen. „Es gibt einen Wandel, und es ist schön zu sehen, dass immer mehr Männer sich einbringen“, erklärt Böhm. „In den meisten Fällen muss die Frau aber nach wie vor für den Mann mitdenken.“Was muss für die Kinder organisiert werden, wer kauft Windeln ein, wer macht die Wäsche, wer steht nachts auf, wer sagt die Arbeit ab, wenn der Nachwuchs krank wird, verbunden mit Einbußen bei Gehalt und Rente? Die Antworten darauf fallen oft einseitig aus.
Dazu kommt ein Blick von außen, der sich eher an herkömmlichen Gesellschaftsmustern orientiert, wie eine Karikatur zeigt. Auf der ist eine Frau zu sehen, die einen Kinderwagen schiebt und gleichzeitig auf ihr Handy guckt, von Passanten kommentiert mit dem Satz: „Unfassbar, wie kann sie nur!“Auf einem zweiten Bild schiebt ein Mann den Kinderwagen und schaut dabei in sein Handy, diesmal aber so kommentiert: „Toll, dass der Vater sich um sein Kind kümmert.“„Genau so ist es“, sagt Böhm.
Die ständige Kommentierung der Lebensführung erschwert das Muttersein oftmals, wie Anna Weber bestätigt. „Was ich da schon für Sprüche gehört habe“, etwa beim Thema Elternzeit: „Wenn eine Frau ein Jahr Elternzeit nimmt, wird gesagt: ,Du gibst dein Kind schon so früh in die Kita?’ Bei zwei Jahren heißt es: ,Könnt ihr euch das denn leisten?’. Und bei drei Jahren: ,Ihr habt es aber dicke!’ – recht machen kann man es niemandem.“
Doch abgesehen von Rollenklischees und Umfeld, wie viel
Druck machen sich die Frauen denn selbst? Darauf antworten die beiden kurz und klar: „Viel!“
„Da ist der Anspruch, wie ich meine Kinder erziehen will, wie viel Zeit ich mit ihnen verbringen will. Dazu kommt der Druck im Beruf, ich will ja nicht nur Mama sein“, sagt Clara Böhm, die diesem Druck standhalten will. „Das ist aber ein Lernprozess. Sich auch mit anderen Müttern nicht zu vergleichen, die ihr Brot selber machen, die Kuchen backen, die sagen: ,Ich wuppe alles’ – davon muss ich mich distanzieren.“
Ähnlich empfindet es Anna Weber. „Ich bin dankbar für alles, meine Tochter ist das größte Geschenk meines Lebens. Auch wenn ich Schuldgefühle habe, ihr nicht alles bieten zu können, was ich mir für sie gewünscht habe. Das ist das Schlimmste an der Trennung gewesen. Nun kann ich aber nicht alles leisten. Ich habe ohnehin schon hohe Ansprüche an mich als Mutter, dass ich alles für mein Kind auffange, es gesund ernähre, ihm schöne Spielsachen kaufen kann, ein gutes Leben bieten …“
Ob alleinerziehend oder nicht, Frauen sollen heute viele Rollen ausfüllen. Die perfekte Mutter sein, erfolgreich auf der Arbeit, attraktiv und schön sowieso – Stress und Strapazen inklusive.
„Es ist eine tolle Entwicklung, dass Frauen arbeiten gehen und nicht nur Mutter und Hausfrau sind“, sagt Luzia Martello, die den „Tandem plus“-Treff in Ravensburg leitet. „Und gleichzeitig ist das ein großes Dilemma.“Ein Dilemma, weil sie ebenso Versorger wie Vollzeitmutter sein wollen. „Die Herausforderung, alles im Gleichgewicht zu halten, ist aber enorm schwer.“Zudem zusätzlich belastet, so die Sozialpädagogin, weil die Emotionalität der Mutter, ihre Verbundenheit mit dem Kind, so stark ist, dass sie viel schneller an ihre psychischen Grenzen gerät. „Ein Mann kann zum Beispiel besser damit umgehen, wenn das Kind länger in der Kita bleibt, wo es unterm Strich ja auch gut versorgt ist.“
Diese Leichtigkeit der Männer wünscht sich Martello bisweilen auch bei den Müttern. Damit das schlechte Gewissen abnimmt und sich die Anspruchshaltung auf ein gesundes Maß einpendelt. Damit das Muster aus 100 Prozent funktionieren durchbrochen wird und das Hamsterrad zum Stehen kommt.
„Ich frage die Mütter immer zuerst, was sie für sich selbst tun – aber sie tun meist nichts für sich.“Sie verzichten auf Kaffeetrinken, Spazierengehen oder Sport, machen keine Therapie oder Kur. Fürsorge können sie, Selbstfürsorge müssen sie erst wieder lernen.
„Eltern haben einen gesetzlichen Anspruch auf Auszeit“, sagt dazu Franziska Gulde von der Klinik Schwabenland in Dürmentingen (Landkreis Biberach), „doch von diesem Anspruch wissen die meisten nichts.“Vom Recht auf medizinische Vorsorge und Rehabilitation, auf Abstand und Ruhe vom Alltag. Anna Weber ist gerade dabei, eine solche Kur zu beantragen. Und auch im Tagesablauf achtet sie besser auf ihre Bedürfnisse, genauso wie Clara Böhm. Die beiden Mütter haben sich angefreundet, stützen sich gegenseitig und gehen einmal im Monat abends zusammen aus. Und wollen auch das einst zerbrochene Lebensideal nicht aufgeben.
„Ich bin offen für eine neue Partnerschaft“, sagt Böhm. Auch Weber wünscht sich einen „supertollen Mann“für eine neue Familie, vielleicht mit einem Bruder oder einer Schwester für ihre Tochter. „Ich habe die Hoffnung, dass es für jeden Menschen einen Partner gibt.“Allerdings, und da sind sich die beiden Frauen einig, nicht um jeden Preis. Mitdenken sollte er schon.
Sozialpädagogin Luzia Martello vom Gruppentreff „Tandem plus“in Ravensburg
„Die Arbeit, die Eltern und insbesondere Alleinerziehende leisten, wird von der Gesellschaft immer noch unterschätzt.“
„Ich frage die Mütter immer zuerst, was sie für sich selbst tun – aber sie tun meist nichts für sich.“