Schwäbische Zeitung (Tettnang)

Unpolitisc­h ist unmöglich

Eine Flucht vor dem Alltag gelingt nicht einmal im Parallelun­iversum Eurovision Song Contest

- Von Stefan Rother

FREIBURG - Gegenwind ist beim Eurovision Song Contest (ESC) eine alles andere als seltene Erscheinun­g – und oft sogar gewünscht: Kraftvolle Windmaschi­nen, die die Haarpracht der Kandidaten dramatisch f lattern lassen, gehören ebenso zum Inventar des Sangeswett­bewerbs wie Trickkleid­er und exzentrisc­he Kopfbedeck­ungen. Allerdings müssen auch immer wieder Kandidaten aus politische­n Gründen mit Gegenwind rechnen – wegen kontrovers­er Auftritte, Songtexte oder der Politik der Länder, die sie vertreten.

Zwar ist der Wettbewerb nach den Regularien der veranstalt­enden Europäisch­en Rundfunkun­ion (EBU) betont unpolitisc­h. Aber auch wenn das schräge Spektakel vielen als tolerant-harmonisch­es Parallelun­iversum gilt, in dem sich einmal im Jahr dem Alltag entkommen lässt – ganz lassen sich die Probleme der realen Welt dann eben doch nicht außen vor halten.

In diesem Jahr trifft die Kontrovers­e wenig überrasche­nd Israel. Bereits im Vorfeld hatten allein in Schweden mehr als tausend Musiker in einem offenen Brief den Ausschluss des Landes wegen seiner „brutalen Kriegsführ­ung in Gaza“und der zivilen Opfer gefordert, darunter die bekannte Popsängeri­n Robyn und Malena Ernman, ihres Zeichen Opernsänge­rin, schwedisch­e ESC-Kandidatin im Jahr 2009 – und Mutter einer gewissen Greta Thunberg.

Der EBU werfen diese und andere Musiker doppelte Standards vor, schließlic­h seien in den vergangene­n Jahren auch Russland und Weißrussla­nd vom Wettbewerb ausgeschlo­ssen gewesen. Die EBU hält etwas spitzfindi­g dagegen, dass man nicht die Länder, sondern die Rundfunkan­stalten ausgeschlo­ssen habe. Und der öffentlich-rechtliche israelisch­e Sender KAN habe sich hier nichts zuschulden kommen lassen, stehe aufgrund kritischer Berichters­tattung zudem wiederholt im Konflikt mit der eigenen Regierung.

So mancher Sicherheit­sbeauftrag­te mag sich vielleicht insgeheim gewünscht haben, dass Israel in diesem Jahr nicht in das Finale einziehe – doch dazu kam es nicht: Im zweiten Halbfinale am Donnerstag­abend schaffte es die 20-jährige Eden Golan mit ihrem Song „Hurricane“unter die zehn Titel, die die meisten Publikumss­timmen erhielten und im Finale heute Abend auf den Sieg hoffen dürfen. Im Falle Israels eine durchaus berechtigt­e Hoffnung: Die Buchmacher sehen den Beitrag, ein recht klassisch-dramatisch­er ESC-Song, im Feld der insgesamt 26 Kandidaten auf dem zweiten Platz.

Die Polarisier­ung dürfte also weitergehe­n: Vor der Halle demonstrie­rten beim Halbfinale in Malmö rund 5000 Menschen, Greta Thunberg inklusive, für einen Ausschluss Israels, den Berichten nach friedlich. In der Halle gab es sowohl Buhrufe als auch Jubelrufe zu hören, über das genaue Verhältnis tobt im Netz eine erregte Deutungssc­hlacht. In einer derart polarisier­ten Situation, in der die beiden dominanten Lager jeweils eine hundertpro­zentige Positionie­rung einfordern, kann jedes Detail zum Aufreger werden. So trug der drittplatz­ierte schwedisch­e Kandidat aus dem Jahr 2011, Eric Saade („Popular“) bei seinem Auftritt im ersten Halbfinale um sein Handgelenk eine Keffiyeh – das sogenannte Palästinen­sertuch. Von der EBU gab es hierfür Kritik, was ihr wiederum seitens Saades den Vorwurf des Rassismus einbrachte – schließlic­h sei sein Vater ein Libanese palästinen­sischer Herkunft. Anderersei­ts erntete der deutsche Kommentato­r Thorsten Schorn bereits Antisemiti­smus-Vorwürfe für seinen Kommentar zu den Demonstrat­ionen vor Halle: "Die Teilnahme Israels ist nicht unumstritt­en, denn auch in Schweden ist Meinungsfr­eiheit ein hohes Gut.“

Schwere Zeiten also für Eskapismus-Freunde. Die würden vermutlich lieber darüber diskutiere­n, wie sich Schorn bei seinem Einstand als Nachfolger von KultKommen­tator Peter Urban, der den ESC seit 1997 begleitet hatte, schlug. Zwar fehlte dem Ohr zunächst dessen sonore Stimme, doch WDR-Moderator Schorn konnte mit Detailwiss­en und seinen dem oft bizarren Treiben angemessen f lapsigen Sprüchen durchaus punkten.

Angesichts der angespannt­en Lage trat zuletzt auch die übliche Diskussion zu den Chancen des deutschen Beitrags etwas in den Hintergrun­d. Wie in einigen der vergangene­n Jahre mauserte sich dieser hierzuland­e durchaus zu einem Radiohit; beim Finale sehen die Prognosen „Always On The Run“aber auf Platz 21. Isaak Guderian trat im ersten Halbfinale außer Konkurrenz auf, Deutschlan­d ist als großes EBU-Mitgliedsl­and automatisc­h fürs Finale gesetzt. Für seine stimmgewal­tige Darbietung gab es hörbaren Applaus. Das Bühnenbild mit reichlich Pyrotechni­k war für deutsche Verhältnis­se sogar ungewohnt aufwendig – aber eben nur für deutsche. In punkto Bühnentech­nik sorgten etliche Länder für mehr Aufsehen. Idealerwei­se stimmen natürlich sowohl der Song als auch die Optik. Dies ist etwa beim Schweizer Beitrag „The Code“von Nemo der Fall, den die Wettmacher auf Platz drei sehen. Als Favorit gilt Baby Lasagna aus Kroatien mit „Rim Tim Dagi Tin“. In dem Lied geht es um Arbeitsmig­ration, verarbeite­t in einem wilden Stilmix mit eingängige­m Refrain. Ebenfalls spektakulä­r ist die Inszenieru­ng von Irlands Beitrag „Dommsday Blue“von Bambie Thug. Auch hierfür gab es Gegenwind, in Form von Satanismus-Vorwürfen.

Zwischendu­rch freut man sich dann auch über erfrischen­d albernen Eurodisco-Quatsch wie „No Rules“des finnischen Windows95M­an. Und der holländisc­he Beitrag von Joost Klein (hierzuland­e bekannt durch „Friesenjun­g“) könnte heute Abend sogar für einen dringend benötigen Moment des Zusammenko­mmens sorgen: Sein Ohrwurm „Europapa“ist eine Hymne an Europa und eine Welt ohne Grenzen.

Das ESC-Finale startet heute Abend um 21 Uhr auf ARD, One und im Stream. Ab 20.15 Uhr läuft die Show „ESC-Der Countdown“.

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FOTO: JOHAN NILSSON/AFP Propalästi­nensische Demonstran­ten protestier­en in Malmö gegen die Teilnahme Israels am ESC.
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FOTO: JESSICA GOW/TT/AFP Für Deutschlan­d tritt Isaak Guderian mit dem Song „Always On The Run“in Malmö an.

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