Schwäbische Zeitung (Tettnang)
Unpolitisch ist unmöglich
Eine Flucht vor dem Alltag gelingt nicht einmal im Paralleluniversum Eurovision Song Contest
FREIBURG - Gegenwind ist beim Eurovision Song Contest (ESC) eine alles andere als seltene Erscheinung – und oft sogar gewünscht: Kraftvolle Windmaschinen, die die Haarpracht der Kandidaten dramatisch f lattern lassen, gehören ebenso zum Inventar des Sangeswettbewerbs wie Trickkleider und exzentrische Kopfbedeckungen. Allerdings müssen auch immer wieder Kandidaten aus politischen Gründen mit Gegenwind rechnen – wegen kontroverser Auftritte, Songtexte oder der Politik der Länder, die sie vertreten.
Zwar ist der Wettbewerb nach den Regularien der veranstaltenden Europäischen Rundfunkunion (EBU) betont unpolitisch. Aber auch wenn das schräge Spektakel vielen als tolerant-harmonisches Paralleluniversum gilt, in dem sich einmal im Jahr dem Alltag entkommen lässt – ganz lassen sich die Probleme der realen Welt dann eben doch nicht außen vor halten.
In diesem Jahr trifft die Kontroverse wenig überraschend Israel. Bereits im Vorfeld hatten allein in Schweden mehr als tausend Musiker in einem offenen Brief den Ausschluss des Landes wegen seiner „brutalen Kriegsführung in Gaza“und der zivilen Opfer gefordert, darunter die bekannte Popsängerin Robyn und Malena Ernman, ihres Zeichen Opernsängerin, schwedische ESC-Kandidatin im Jahr 2009 – und Mutter einer gewissen Greta Thunberg.
Der EBU werfen diese und andere Musiker doppelte Standards vor, schließlich seien in den vergangenen Jahren auch Russland und Weißrussland vom Wettbewerb ausgeschlossen gewesen. Die EBU hält etwas spitzfindig dagegen, dass man nicht die Länder, sondern die Rundfunkanstalten ausgeschlossen habe. Und der öffentlich-rechtliche israelische Sender KAN habe sich hier nichts zuschulden kommen lassen, stehe aufgrund kritischer Berichterstattung zudem wiederholt im Konflikt mit der eigenen Regierung.
So mancher Sicherheitsbeauftragte mag sich vielleicht insgeheim gewünscht haben, dass Israel in diesem Jahr nicht in das Finale einziehe – doch dazu kam es nicht: Im zweiten Halbfinale am Donnerstagabend schaffte es die 20-jährige Eden Golan mit ihrem Song „Hurricane“unter die zehn Titel, die die meisten Publikumsstimmen erhielten und im Finale heute Abend auf den Sieg hoffen dürfen. Im Falle Israels eine durchaus berechtigte Hoffnung: Die Buchmacher sehen den Beitrag, ein recht klassisch-dramatischer ESC-Song, im Feld der insgesamt 26 Kandidaten auf dem zweiten Platz.
Die Polarisierung dürfte also weitergehen: Vor der Halle demonstrierten beim Halbfinale in Malmö rund 5000 Menschen, Greta Thunberg inklusive, für einen Ausschluss Israels, den Berichten nach friedlich. In der Halle gab es sowohl Buhrufe als auch Jubelrufe zu hören, über das genaue Verhältnis tobt im Netz eine erregte Deutungsschlacht. In einer derart polarisierten Situation, in der die beiden dominanten Lager jeweils eine hundertprozentige Positionierung einfordern, kann jedes Detail zum Aufreger werden. So trug der drittplatzierte schwedische Kandidat aus dem Jahr 2011, Eric Saade („Popular“) bei seinem Auftritt im ersten Halbfinale um sein Handgelenk eine Keffiyeh – das sogenannte Palästinensertuch. Von der EBU gab es hierfür Kritik, was ihr wiederum seitens Saades den Vorwurf des Rassismus einbrachte – schließlich sei sein Vater ein Libanese palästinensischer Herkunft. Andererseits erntete der deutsche Kommentator Thorsten Schorn bereits Antisemitismus-Vorwürfe für seinen Kommentar zu den Demonstrationen vor Halle: "Die Teilnahme Israels ist nicht unumstritten, denn auch in Schweden ist Meinungsfreiheit ein hohes Gut.“
Schwere Zeiten also für Eskapismus-Freunde. Die würden vermutlich lieber darüber diskutieren, wie sich Schorn bei seinem Einstand als Nachfolger von KultKommentator Peter Urban, der den ESC seit 1997 begleitet hatte, schlug. Zwar fehlte dem Ohr zunächst dessen sonore Stimme, doch WDR-Moderator Schorn konnte mit Detailwissen und seinen dem oft bizarren Treiben angemessen f lapsigen Sprüchen durchaus punkten.
Angesichts der angespannten Lage trat zuletzt auch die übliche Diskussion zu den Chancen des deutschen Beitrags etwas in den Hintergrund. Wie in einigen der vergangenen Jahre mauserte sich dieser hierzulande durchaus zu einem Radiohit; beim Finale sehen die Prognosen „Always On The Run“aber auf Platz 21. Isaak Guderian trat im ersten Halbfinale außer Konkurrenz auf, Deutschland ist als großes EBU-Mitgliedsland automatisch fürs Finale gesetzt. Für seine stimmgewaltige Darbietung gab es hörbaren Applaus. Das Bühnenbild mit reichlich Pyrotechnik war für deutsche Verhältnisse sogar ungewohnt aufwendig – aber eben nur für deutsche. In punkto Bühnentechnik sorgten etliche Länder für mehr Aufsehen. Idealerweise stimmen natürlich sowohl der Song als auch die Optik. Dies ist etwa beim Schweizer Beitrag „The Code“von Nemo der Fall, den die Wettmacher auf Platz drei sehen. Als Favorit gilt Baby Lasagna aus Kroatien mit „Rim Tim Dagi Tin“. In dem Lied geht es um Arbeitsmigration, verarbeitet in einem wilden Stilmix mit eingängigem Refrain. Ebenfalls spektakulär ist die Inszenierung von Irlands Beitrag „Dommsday Blue“von Bambie Thug. Auch hierfür gab es Gegenwind, in Form von Satanismus-Vorwürfen.
Zwischendurch freut man sich dann auch über erfrischend albernen Eurodisco-Quatsch wie „No Rules“des finnischen Windows95Man. Und der holländische Beitrag von Joost Klein (hierzulande bekannt durch „Friesenjung“) könnte heute Abend sogar für einen dringend benötigen Moment des Zusammenkommens sorgen: Sein Ohrwurm „Europapa“ist eine Hymne an Europa und eine Welt ohne Grenzen.
Das ESC-Finale startet heute Abend um 21 Uhr auf ARD, One und im Stream. Ab 20.15 Uhr läuft die Show „ESC-Der Countdown“.