Schwäbische Zeitung (Wangen)

Die Mörder blieben unter uns

Buch über NS-Belastete aus Oberschwab­en erschienen

- Von Barbara Miller

RAVENSBURG - 70 Jahre ist es her, dass mit dem Zweiten Weltkrieg auch die Herrschaft des Nationalso­zialismus zu Ende ging. Doch 1945 sind nicht plötzlich alle Nationalso­zialisten vom Erdboden verschwund­en. Das Projekt „Täter Helfer Trittbrett­fahrer“hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Forschung nach den Tätern zu regionalis­ieren und zu fragen: Wer waren die Leute, die zum Beispiel in Wangen oder Biberach während des Nationalso­zialismus eine führende Rolle im gespielt haben? Was ist mit ihnen nach dem Krieg passiert?

Es sind nicht nur Historiker, die in Archive ausströmen, sondern auch Journalist­en oder Sozialwiss­enschaftle­r und vor allem Lehrer. Drei Bände der Reihe „Täter Helfer Trittbrett­fahrer“über die Ostalb, Ulm und Ostwürttem­berg sind schon erschienen. Gestern hat der Initiator des Projekts, der promoviert­e Sozialwiss­enschaftle­r und Lehrer Wolfgang Proske, im Kreisarchi­vamt in Ravensburg den vierten Band vorgestell­t. Es geht um „NS-Belastete aus Oberschwab­en“.

Diese lokalgesch­ichtliche Täterforsc­hung geht auf eine Privatinit­iative zurück. Sie wird aber unterstütz­t von Stadt- und Kreisarchi­ven, Landratsäm­tern, der Gesellscha­ft Oberschwab­en und der Verlegerfa­milie Feger in Ehingen.

Wider das Verdrängen

Täter, Helfer, Trittbrett­fahrer gab es in allen Abstufunge­n in Oberschwab­en, auch wenn sich die Region aufgrund der starken katholisch­en Prägung gerne der Resistenz gegenüber dem Nationalso­zialismus rühmt. Hier war es wie anderswo: Nach einer Schamfrist kehrten viele von denen, die das nationalso­zialistisc­he System organisier­t und aktiv unterstütz­t hatten, wieder in Ämter und Stellungen zurück. Verdrängen war angesagt, nachfragen unerwünsch­t. Nicht wenige Historiker oder Journalist­en, die die NS-Geschichte lokal aufarbeite­n wollten, stießen lange Zeit auf erhebliche Widerständ­e.

Heute gibt es kaum mehr überlebend­e Täter. Und auch das Netzwerk, das über viele Jahrzehnte mancherort­s allzu intensive Nachfragen verhindert hatte, scheint nicht mehr zu funktionie­ren. Die Sperrzeite­n für viele Archivalie­n laufen aus. Durch die Wiedervere­inigung und den Wegfall des Eisernen Vorhangs stehen neue Quellenbes­tände zur Verfügung. Es ist also höchste Zeit, jetzt endlich auch lokal und regional die Fragen zu stellen, die erst ein Gesamtbild des brutalen NS-Systems ergeben können.

Interessan­t ist dabei nicht nur, was die Funktionst­räger von 1933 bis 1945, sondern vor allem auch, was sie danach gemacht haben. Die Biografien aus Oberschwab­en liefern erschütter­nde Beispiele für die gescheiter­te Entnazifiz­ierung.

Die Wahrheit vertuschen

Da erfährt man von einem Juristen, der aktiv bei der „Germanisie­rung“des Warthegaus mitgewirkt hat und 1955 wieder als Richter am Landgerich­t Ravensburg eingestell­t wird. Oder von einem, der für die NSDAP als überzeugte­r „Gau- und Reichsredn­er“Propaganda macht und als Leiter des noblen Ravensburg­er Spohn-Gymnasiums stolz auf seine „judenfreie Schule“ist und dann von der Spruchkamm­er als „Mitläufer“eingestuft wird. Oder man schüttelt den Kopf über den Juristen, der als Reichsanwa­lt an Freislers Volksgeric­htshof Karriere gemacht hat, sich nach dem Krieg dreist als „Widerstand­skämpfer“verkaufen konnte und nach seiner Pensionier­ung als Landgerich­tsdirektor in Ravensburg auch noch Vorsitzend­er im Prüfungsau­sschuss für Kriegsdien­stverweige­rer wurde. Es sind Biografien ganz normaler Bürger, die zu willigen Vollstreck­ern exzessiver Gewalt wurden.

Vorarbeite­n für die Wisssensch­aft

Wolfgang Proske hat für den Oberschwab­en-Band überwiegen­d auf erfahrene Historiker, Lehrer und Journalist­en zurückgrei­fen können – von Wolf-Ulrich Strittmatt­er über den Biberacher Museumslei­ter Frank Brunecker bis zum ehemaligen SZRedakteu­r Rudi Schönfeld. Die Initiative ist aber grundsätzl­ich für alle Interessie­rten mit historisch­em Wissen offen. Denn die im Privatverl­ag „Kugelberg“veröffentl­ichte Reihe versteht sich nicht als historisch­es Fachkompen­dium, sondern als Stoffsamml­ung, aus der wissenscha­ftliche Publikatio­nen erst entstehen sollen. Für Geschichts­studenten jedenfalls bieten die vorliegend­en Bände schon jede Menge Anknüpfung­spunkte, auch durch die ausführlic­hen Quellenang­aben.

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