Die Mörder blieben unter uns
Buch über NS-Belastete aus Oberschwaben erschienen
RAVENSBURG - 70 Jahre ist es her, dass mit dem Zweiten Weltkrieg auch die Herrschaft des Nationalsozialismus zu Ende ging. Doch 1945 sind nicht plötzlich alle Nationalsozialisten vom Erdboden verschwunden. Das Projekt „Täter Helfer Trittbrettfahrer“hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Forschung nach den Tätern zu regionalisieren und zu fragen: Wer waren die Leute, die zum Beispiel in Wangen oder Biberach während des Nationalsozialismus eine führende Rolle im gespielt haben? Was ist mit ihnen nach dem Krieg passiert?
Es sind nicht nur Historiker, die in Archive ausströmen, sondern auch Journalisten oder Sozialwissenschaftler und vor allem Lehrer. Drei Bände der Reihe „Täter Helfer Trittbrettfahrer“über die Ostalb, Ulm und Ostwürttemberg sind schon erschienen. Gestern hat der Initiator des Projekts, der promovierte Sozialwissenschaftler und Lehrer Wolfgang Proske, im Kreisarchivamt in Ravensburg den vierten Band vorgestellt. Es geht um „NS-Belastete aus Oberschwaben“.
Diese lokalgeschichtliche Täterforschung geht auf eine Privatinitiative zurück. Sie wird aber unterstützt von Stadt- und Kreisarchiven, Landratsämtern, der Gesellschaft Oberschwaben und der Verlegerfamilie Feger in Ehingen.
Wider das Verdrängen
Täter, Helfer, Trittbrettfahrer gab es in allen Abstufungen in Oberschwaben, auch wenn sich die Region aufgrund der starken katholischen Prägung gerne der Resistenz gegenüber dem Nationalsozialismus rühmt. Hier war es wie anderswo: Nach einer Schamfrist kehrten viele von denen, die das nationalsozialistische System organisiert und aktiv unterstützt hatten, wieder in Ämter und Stellungen zurück. Verdrängen war angesagt, nachfragen unerwünscht. Nicht wenige Historiker oder Journalisten, die die NS-Geschichte lokal aufarbeiten wollten, stießen lange Zeit auf erhebliche Widerstände.
Heute gibt es kaum mehr überlebende Täter. Und auch das Netzwerk, das über viele Jahrzehnte mancherorts allzu intensive Nachfragen verhindert hatte, scheint nicht mehr zu funktionieren. Die Sperrzeiten für viele Archivalien laufen aus. Durch die Wiedervereinigung und den Wegfall des Eisernen Vorhangs stehen neue Quellenbestände zur Verfügung. Es ist also höchste Zeit, jetzt endlich auch lokal und regional die Fragen zu stellen, die erst ein Gesamtbild des brutalen NS-Systems ergeben können.
Interessant ist dabei nicht nur, was die Funktionsträger von 1933 bis 1945, sondern vor allem auch, was sie danach gemacht haben. Die Biografien aus Oberschwaben liefern erschütternde Beispiele für die gescheiterte Entnazifizierung.
Die Wahrheit vertuschen
Da erfährt man von einem Juristen, der aktiv bei der „Germanisierung“des Warthegaus mitgewirkt hat und 1955 wieder als Richter am Landgericht Ravensburg eingestellt wird. Oder von einem, der für die NSDAP als überzeugter „Gau- und Reichsredner“Propaganda macht und als Leiter des noblen Ravensburger Spohn-Gymnasiums stolz auf seine „judenfreie Schule“ist und dann von der Spruchkammer als „Mitläufer“eingestuft wird. Oder man schüttelt den Kopf über den Juristen, der als Reichsanwalt an Freislers Volksgerichtshof Karriere gemacht hat, sich nach dem Krieg dreist als „Widerstandskämpfer“verkaufen konnte und nach seiner Pensionierung als Landgerichtsdirektor in Ravensburg auch noch Vorsitzender im Prüfungsausschuss für Kriegsdienstverweigerer wurde. Es sind Biografien ganz normaler Bürger, die zu willigen Vollstreckern exzessiver Gewalt wurden.
Vorarbeiten für die Wisssenschaft
Wolfgang Proske hat für den Oberschwaben-Band überwiegend auf erfahrene Historiker, Lehrer und Journalisten zurückgreifen können – von Wolf-Ulrich Strittmatter über den Biberacher Museumsleiter Frank Brunecker bis zum ehemaligen SZRedakteur Rudi Schönfeld. Die Initiative ist aber grundsätzlich für alle Interessierten mit historischem Wissen offen. Denn die im Privatverlag „Kugelberg“veröffentlichte Reihe versteht sich nicht als historisches Fachkompendium, sondern als Stoffsammlung, aus der wissenschaftliche Publikationen erst entstehen sollen. Für Geschichtsstudenten jedenfalls bieten die vorliegenden Bände schon jede Menge Anknüpfungspunkte, auch durch die ausführlichen Quellenangaben.