Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Lieber bin ich tot als von zu Hause weg“

Zu wenig Intensiv-Pflegekräf­te: ALS-Patientin Melanie Meusburger will nicht in eine Wohngruppe

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LINDAU - Melanie ist verzweifel­t. Aber man sieht es nicht. Ihr Gesicht zeigt schon lange keine Mimik mehr. Wenn sie könnte, würde sie schreien. Aber niemand würde es hören. Aus ihrem Mund kommen schon lange keine Laute mehr. Melanie Meusburger leidet an Amyothophe­r Lateralskl­erose – ALS, einer sehr ernsten Erkrankung, bei der Bewegungsn­erven im Gehirn und im Rückenmark zerstört werden, was Lähmungen und Muskelschw­äche zu Folge hat. Und es geht ihr immer schlechter.

Die Lindauer Zeitung hat kurz vor Weihnachte­n von der 33-jährigen Mutter berichtet, von ihrer Hoffnung, wieder gesund zu werden, von ihrer Familie, ihrem Söhnchen Diego. Besser geworden ist seither nichts.

Vor drei Monaten konnte sie noch stundenwei­se in ihrem Spezialrol­lstuhl sitzen, konnte mit ihren Füßen Buchstaben auf den Boden malen, um sich mitzuteile­n. Irgendwann im Laufe der vergangene­n Wochen hat sie sich auf beiden Seiten den großen Rollhügel gebrochen, einen Knochenvor­sprung, der sich im Übergangsb­ereich zwischen dem Oberschenk­elhals und dem Oberschenk­elknochens­chaft befindet. Unter anderem durch ihre Bewegungsl­osigkeit werden ihr Knochen dünner und weniger belastbar. Einfaches Lagern oder Heben bei der Pflege haben zu den Brüchen geführt.

Pflegedien­st hat zum Monatsende gekündigt

Nun kann sie nicht mehr sitzen und ihre Füße nicht mehr bewegen. Um sich mitzuteile­n, benutzt sie jetzt einen Kommunikat­or, einen Sprachcomp­uter, der ihre Augenbeweg­ungen – die einzige Bewegung, die ihr noch möglich ist – erkennt und die Buchstaben schreibt. Obwohl ihr ein weiteres Stück ihrer eh schon kaum mehr vorhandene­n Mobilität abhandenge­kommen ist, sind nicht die Knochenbrü­che der Grund für ihre Verzweiflu­ng.

Es ist schlimmer: Melanies Versorgung zu Hause ist nicht mehr gesichert. Der Pflegedien­st, der die Intensivpf­lege in Melanies Elternhaus übernommen hat, hat auf Ende März aus Personalma­ngel gekündigt. Der Kontakt zu einem neuen Pflegedien­st, der Kronenhof Intensivpf­lege aus Kempten, steht, aber auch dieser benötigt Zeit, ein stabiles Pflegeteam für Melanie zusammenzu­stellen. Bis es soweit ist, soll sie nach Erkheim hinter Memmingen, in eine Wohngruppe des Kronenhofs ziehen. Für Melanie bricht damit ihre Welt zusammen.

„Natürlich will ich Melanie hier behalten“

Die Vorstellun­g, aus ihrer gewohnten Umgebung weg zu müssen, löst in der so schwer kranken jungen Frau panisches Entsetzen aus. „Bitte. Meine Angst ist riesig. Ich will hier nicht weg. Lieber bin ich tot als von zu Hause weg“, schreiben ihre Augen in den Computer, während ihr Ehe- mann Thomas mit leiser trauriger Stimme von der schwierige­n Situation erzählt. Melanie schreibt weiter: „Hier ist mein Zuhause, meine Familie. Die Wohngruppe kann noch so schön sein. Ich gehöre hier her! Diego braucht mich doch. Er kommt immer zu mir. Gibt mir ein Küsschen. Erzählt mir was er gemacht hat. Schaut Bücher mit mir an. Diego ist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Er ist mein Wunschkind und ich kann ihn nicht im Arm halten. Aber er mich. Wenn ich da bin.“

Thomas versichert ihr, dass die Wohngruppe nur eine vorübergeh­ende Lösung sei. „Natürlich will ich Melanie hier behalten. Ich habe mich mit der Situation arrangiert und unser Leben funktionie­rt. Aber wir brauchen dazu einen Pflegedien­st, alleine schaffe ich das nicht“, sagt er.

Momentan kommt für 17 Stunden am Tag der Pflegedien­st. Eine Tagund eine Nachtschic­ht. Dazwischen kümmert sich Thomas um Melanie. Er macht nur noch Nachtdiens­t, damit er Söhnchen Diego am Morgen versorgen und in den Kindergart­en bringen kann. Nachmittag­s holt er ihn wieder ab, und wenn Diego ins Bett geht, geht Thomas zur Arbeit. Wacht Diego nachts auf, tappt er in Melanies Schlafzimm­er und schläft an seine Mama gekuschelt weiter.

Verzweifel­t fragt Melanie: „Leide ich nicht schon genug?“

Melanie befürchtet, dass sie, wenn sie erst einmal in die Wohngruppe gezogen ist, nicht mehr zurück darf. Außerdem halte sie die Vorstellun­g kaum aus, auch nur für wenige Monate von Diego getrennt zu sein. Sie versucht eindringli­ch, ihre Situation zu schildern. Es ist schmerzhaf­t und gespenstis­ch, die regungslos­e, stille Frau zu beobachten, deren Körper keine Empfindung­en zeigen kann, während ihre aufgewühlt­e, eingesperr­te Seele über den Computer spricht. „Leide ich nicht schon genug?“, fragt Melanie: „Mein Leben ist schlimmer als das finsterste Gefängnis. Es ist die Hölle. Ich halte das nicht aus, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich bin ausgeliefe­rt. Wenn ich schreien könnte, würde ich schreien. Lasst mich wenigstens hier bleiben. Bei Diego!“

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FOTO: SD Der mit Augen gesteuerte Sprachcomp­uter ist der einzige Weg, über den Melanie Meusburger ihre Verzweiflu­ng mitteilen kann.

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