Minnesänger des Alltags
Element of Crime begeistern im Ulmer Roxy
ULM - Normalerweise spielten sie vor 14- bis 16-Jährigen, aber man habe ihm gesagt, er solle vorsichtig sein mit Witzen über die ältere Generation, sagt der Sänger der ziemlich talentierten Vorband „Von wegen Lisbeth“. Offenbar ist so ein Element-of-CrimeAuftritt wie im Ulmer Roxy Dienstagnacht ziemlich bewusstseinserweiternd für die Generation „Ich-schauauf-mein-Handy“. Was machen diese Menschen mit ihren Falten und Brillen und Geheimratsecken da bloß so spät noch? Warum wirken sie so tiefenentspannt, so unbetrunken und machen so wenig Lärm? Warum tragen sie keine coolen T-Shirts? Und warum um Himmels Willen zücken sie in den besten Momenten nicht ihre Smartphones, um alles aufzunehmen, sofort auf Instagram zu stellen, um 33 „Find ich geil“-Daumen zu ernten?
Ganz einfach: Diese Menschen tragen ein Hemd, weil sie bereits einer geregelten Arbeit nachgehen, von der sie gerade kommen, trinken lediglich ein Bier, weil sie morgen früh wieder aufstehen müssen und lassen das Handy aus dem Grund in der Tasche, weil sie den Augenblick genießen und sich nicht ablenken wollen und es ihnen piepegal ist, ob ein anderer irgendwas an ihrem Leben gut findet. Überraschenderweise allerdings geht es Sven Regener um dasselbe wie Justin Bieber, um ein ziemlich zeitloses Ding, das einen ein Leben lang beschäftigt, egal ob man 14 ist oder in einem Alter, in dem Galapagos-Schildkröten in Rente gehen. Es geht um Liebe und darum geliebt zu werden und dass das so schön sein könnte, weil ja ein anderer da ist, gleichzeitig aber problematisch ist, weil da ja ein anderer ist. Sprich: Die Liebe und das Leben werden durch die Anwesenheit des anderen auf Dauer kompliziert.
Too old to die young
Nur, dass das beim 55-jährigen Regener eben anders klingt, ein wenig realistischer – so, als würde einer aus Gedichten von Kästner oder Tucholsky Rocksongs machen. „Nicht mal das Meer darf ich wiedersehen, wo der Wind deine Haare vermisst, wo jede Welle ein Seufzer und jedes Sandkorn ein Blick von dir ist. Am liebsten wär ich ein Astronaut und flöge auf Sterne, wo gar nichts vertraut und versaut ist durch eine Berührung von dir“, singt er bei „Weißes Papier“, einem seiner größten Songs. Und das alles mit einer Stimme, die im Laufe der Jahre immer tiefer, grober, immer mehr Reibeisen zu werden scheint, jedenfalls das Gegenteil von säuselnd und lieblich ist. Manchmal klingt das fast bizarr, etwa bei „Am Ende denk ich immer nur an dich“, wo es um Kinder und Mütter und Erdbeereis und die lieblose Gesellschaft geht. Man würde sich das Lied zärtlicher und leiser wünschen, gerade von einem, dessen größtes Album „Romantik“heißt und der zu Beginn eines jeden Konzerts immer ganz laut „Romantik“schreit. Geht aber wohl nicht, mit so einer Stimme.
„Lieblingsfarben und Tiere“, das 2014er-Album, steht im Mittelpunkt des Konzerts, am meisten Applaus ernten Element of Crime für die melancholische Ballade „Rette mich (vor mir selber)“: „Heimatlos und viel zu Hause, unterbeschäftigt und viel zu viel zu tun, rette mich vor mir selber, Hauptsache Liebe und Hauptsache du“, heißt es da.
Auch als Schriftsteller („Herr Lehmann“) hat Sven Regener große Erfolge gefeiert. Am stärksten aber bleibt er auf der Bühne, wenn er Musik und Worte verbindet, als Sänger und Trompeter und Gitarrist und als Minnesänger des Alltags, der über Straßenbahnen und Helden der Arbeit, über Paranoia und den Edeka des Grauens grübelt und am Ende doch wieder bei der Liebe landet.
Im Titelsong des aktuellen Albums treibt er es auf die Spitze: „Die E-Mails und die Kurznachrichten kannst du zusammen mit den Excel- und WordDokumenten dahin tun, wo die Sonne auch an warmen Tagen niemals scheint und wo auch schon die Meetings und die Skype-Kontakte ruhn'“, heißt es da. Ein unfassbarer Text für ein Musikstück, aber live hört er sich überraschend gut an, überraschend richtig.
„Keinen Scheiß machen unterwegs“, ruft Regener zum Abschied, nach der vierten und letzten Zugabe, aber das muss er seinen Fans wohl nicht sagen. Die gehen an den Merchandisingstand, T-Shirts kaufen mit dem Aufdruck „Too old to die young“.