„Es war ein sehr liebevolles Verhältnis“
Totschlag-Prozess: Riedlinger Nachbarn beschreiben 87-jährige Angeklagte als fürsorgliche Mutter
RAVENSBURG/RIEDLINGEN - Der Totschlagsprozess am Landgericht Ravensburg setzt der Angeklagten zunehmend zu. Am zweiten Verhandlungstag am Mittwoch wirkte die 87-Jährige angegriffen und hatte zuweilen Schwierigkeiten, die Aussagen der Zeugen zu verstehen. Immer wieder brach sie in Tränen aus. Die Riedlingerin wird beschuldigt, im Oktober ihre geistig behinderte Tochter mit einem Kissen erstickt zu haben.
Als er am 19. Oktober um 15.36 Uhr an der Riedlinger Wohnung eintraf, wusste der Notarzt schon, dass ihn kein gewöhnlicher Einsatz erwartete. Bei der Alarmierung sei er über einen Code über ein „kriminelles Delikt“informiert worden, gab der 45-Jährige bei seiner Zeugenaussage an. Der Ziehsohn der Angeklagten, der Notarzt und Polizei verständigt hatte, nahm die Rettungskräfte in Empfang. In der Wohnung bot sich ein drastischer Anblick: Die Angeklagte sei aufrecht in der Küche gestanden, ihre herabhängenden Arme wiesen „mehrere, parallel verlaufende Schnitte“auf. „Das Blut“, so der Zeuge weiter, „lief an beiden Armen herunter“. Überall auf dem Boden befanden sich Blutspuren.
Auf die Frage, wo ihre Tochter sei, wies die 87-Jährige wortlos auf das Schlafzimmer. Dort lag die behinderte Frau seit dem Abend des Vortags auf dem Bett. „Sehr schön hergerichtet“, wie es ein ebenfalls als Zeuge auftretender Rettungssanitäter beschrieb. Mit gefalteten Händen und umgeben von Plüschtieren, daneben eine aufgestellte Osterhasenkarte mit den Worten „Mama ist bei dir“. Doch für die 45-Jährige kam die Hilfe zu spät. „Es gab keine Lebenszeichen mehr“, sagte der Notarzt vor Zeugin
Gericht aus. Die Leichenstarre hätte bereits eingesetzt.
Die sachlichen Beschreibungen des Arztes machten der Angeklagten spürbar zu schaffen. Dass sie ihre behinderte Tochter mit einem Kissen erstickt hatte und auch sich selbst töten wollte, das hatte die Riedlingerin gleich gegenüber den Rettungskräften eingeräumt. „Sie hat sich auch dazu geäußert, dass sie Angst hätte, dass sie bald stirbt und ihre Tochter alleine zurückbleibt“, sagte der 22-jährige Rettungssanitäter aus.
Zur Tat selbst stellten die Richter unter Vorsitz von Jürgen Hutterer, der Erste Staatsanwalt Alfred Mayer, Verteidiger Klaus-Martin Rogg, Pflichtverteidiger Gerd Pokrop und die psychologische Sachverständige Roswitha Hietel-Weniger denn auch nur Detailfragen. Viel mehr wollten sie von den Zeugen wissen, wie die Angeklagte auf sie gewirkt habe. „Sehr still, in sich gekehrt“, schilderte der Notarzt seine Beobachtungen. Auf Fragen habe sie aber klar und plausibel geantwortet. „Ich hatte den Eindruck, sie hatte mit dem Leben bereits abgeschlossen“, hatte der Arzt damals gegenüber der Polizei ausgesagt.
Als auf den ersten Blick „relativ gefasst“, beschrieb auch ein Krankenpfleger des ZfP Bad Schussenried die 87-Jährige. Nach Versorgung ihrer starken Schnittverletzungen war die Angeklagte zunächst wegen Suizidgefahr in der Psychiatrie behandelt worden. Dort hätten Pfleger und Ärzte aber auch „nach und nach emotionale Ausbrüche“beobachten können. Gegenüber ihm habe sie von ihren Existenzängsten erzählt, so der Pfleger in seiner Zeugenaussage. Von den schlimmen Alpträumen, den Stimmungsschwankungen und der Antriebslosigkeit, die wohl die Angeklagte seit Monaten begleiteten. Sie habe sich von ihren Kindern allein gelassen gefühlt, quälte sich mit dem Gedanken, der aufwendigen Pflege bei zunehmendem Alter und Schwäche nicht mehr gewachsen zu sein.
Als ihr nach der Tat und ihrem gescheiterten Suizidversuch bewusst geworden sei, dass sie sich nun um ihr behindertes Kind keine Sorgen mehr machen müsse, sie aber schon einen Tag lang tot in der Wohnung liege, habe sie ihren Ziehsohn benachrichtigt. „Damit die Tochter versorgt und beerdigt werden kann“, so der Pfleger.
Auch die Nachbarinnen zeichneten das Bild einer fürsorglichen Mutter. Der Umgang mit der behinderten Tochter sei „sehr herzlich“gewesen, beschrieb eine 55-jährige Zeugin die Beziehung. „Eigentlich fand ich es sehr nett, wie sie mit ihr umgegangen ist“, bestätigte eine andere Nachbarin. „Es war ein sehr liebevolles Verhältnis.“Und doch habe die ältere Dame in den letzten Monaten vor der schrecklichen Tat merklich „abgebaut“. „Sie war nicht mehr so vital wie früher, ein bisschen müder, schlapper.“Von ihren Sorgen, die zunehmend die Angeklagte zermürbten, erfuhren die Nachbarn jedoch nichts. Es blieb wohl bei eher oberflächlichen Kontakten.
Ein weiterer Prozesstag soll ein genaueres Bild der Angeklagten zeichnen. Dabei dürfte für die Prozessbeteiligten wohl auch die Frage eine Rolle spielen, inwieweit die belastete Frau schuldfähig ist.
„Sie hat sich auch dazu geäußert, dass sie Angst hätte, dass sie bald stirbt und ihre Tochter alleine zurückbleibt.“