Paradestrecke über den Berg
Durch den Gotthard-Basistunnel wird die berühmte Bergstrecke zur Nebensache - Weltkulturerbe als Chance
RAVENSBURG - Fast eine Stunde werden Bahnreisende künftig zwischen Zürich und Mailand sparen. Der neue Gotthard-Basistunnel, mit 57 Kilometern der längste der Welt, macht es möglich. Zur feierlichen Einweihung des Jahrhundertbauwerks am 1. Juni erwarten die Schweizer neben anderen europäischen Spitzenpolitikern auch Bundeskanzlerin Angela Merkel. 20 Minuten werden die Züge benötigen, wenn sie vom Dezember an fahrplanmäßig mit 200 Stundenkilometern durch den Tunnel rasen. Nichts mehr werden allerdings die Reisenden in diesen 20 Minuten sehen von der grandiosen Bergwelt im Reusstal (Kanton Uri) zwischen Erstfeld und Biasca, denn die weltberühmte Gotthard-Bergstrecke, 1882 eingeweiht, wird dann vom Transitverkehr tief unten im Berg abgekürzt und unterquert.
Funktionierende Neigetechnik
Dass die alte Gebirgsbahn ErstfeldBiasca mit ihrem 16 Kilometer langen Scheiteltunnel – bei seiner Eröffnung ebenfalls der längste der Welt –, mit ihren künstlich verlängerten Rampen an der Nord- und Südseite, den vielen Schleifen, Kehr- und Spiraltunneln, damit die ursprünglichen Dampflokomotiven die Steigungen überhaupt packten, künftig ganz und gar stillgelegt wird, ist zwar nach allem, was man weiß, unwahrscheinlich. Zehn Ravensburger EisenbahnEnthusiasten wollten aber unbedingt noch einmal das Gefühl voll auskosten, im modernen Schnellzug mit tadellos funktionierender Neigetechnik (!) relativ gemächlich, mit etwa 80 Stundenkilometern über die kurvenreiche Gebirgsstrecke zu schwingen. Und so machen sie sich unter kundiger Führung eines Experten, von Haus aus eigentlich leitender Polizeibeamter im Ruhestand, an dem aber ein begeisterter Eisenbahner verloren gegangen ist, von St. Margarethen aus auf die Reise in Richtung Lugano.
Stark frequentierter Zug
Der ellenlange Zug, in den sie in Arth-Goldau am Vierwaldstättersee einsteigen, ist pünktlich auf die Minute. „Schweizer Eisenbahn, die funktioniert wie eine Schweizer Uhr – äußerst präzise“, kommentiert einer der „eisenbahnmäßig“nicht eben verwöhnten Oberschwaben. Der Zug ist stark frequentiert, doch neben zwei gesprächigen Uniformierten der eidgenössischen Armee, die zu einer Übung einrücken müssen – in der Schweiz besteht bekanntlich nach wie vor Wehrpflicht – und die selbstverständlich auch ihre Gewehre dabeihaben, finden sich noch freie Sitzplätze. „Das Gewehr haben wir daheim im Schrank, aber die Munition wird zentral aufbewahrt“, erfahren die Nebensitzer aus Deutschland.
Kaum hat der Zug an Höhe gewonnen, da fallen die Oberschwaben auch schon von einem Entzücken ins andere. Hatten sie soeben noch den Blick aus dem Waggonfenster auf der einen Seite auf das tief unten aus dem Reusstal herauf grüßende Wassen mit seiner Kirche genossen, so taucht dasselbe Dörfchen nach dem Passieren einer Tunnelschleife plötzlich am gegenüberliegenden Wagenfenster auf.
Wassen, das durch den Bau der Gotthardbahn 1872 bis 1882 weltberühmt wurde, wo aber schon lange keine Züge mehr halten, sondern nur noch Busse, ist als Wahrzeichen der Strecke dafür bekannt, dass es während der Zugfahrt aus geradezu verblüffend verschiedenen Perspektiven zu sehen ist.
Ungewisse Zukunft
Selbstverständlich machen sich die Reisenden aus dem Schussental unterwegs so ihre Gedanken, was wohl aus der einzigartigen, 90 Kilometer langen Gotthard-Bergstrecke später einmal wird – ein Thema, das neben der bevorstehenden spektakulären Einweihung des neuen Gotthard-Basistunnels als Kernbereich der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) am 1. Juni auch die Presse in der Schweiz beschäftigt.
Die fernere Zukunft für den Betrieb auf der Bergstrecke, die bereits ab 1916 elektrifiziert wurde, ist nach Einschätzung des „Tages-Anzeigers“(„Es wird stiller auf der GotthardBergstrecke“) definitiv nur bis Ende 2017 gesichert, denn dann läuft die SBB-Fernverkehrskonzession aus. Bis Ende nächsten Jahres wird es also noch weiterhin stündlich Fernverkehrszüge (Interregio) geben, die oben durchfahren, später womöglich nur mehr einen S-Bahn-Betrieb. Klagen doch die SBB immer wieder, wie teuer der Unterhalt der Bergstrecke sei. Sie werden letztlich nicht einmal mehr als Ausweichstrecke darauf angewiesen sein, meinen Experten, denn sollte wirklich einmal eine der neuen Tunnelröhren unten durch ausfallen, so steht immer noch die zweite zur Verfügung.
Schon ist davon die Rede, dass die touristische Paradestrecke über den Berg aus Kostengründen zurückgebaut werden könnte auf nur mehr ein Gleis. Abzuwarten bleibt, inwieweit sie künftig verstärkt von Nostagiezügen befahren wird. Würde dort regelmäßig das legendäre „Krokodil“auch offene Aussichtswagen über den Berg ziehen, sodass sich die Fahrgäste noch den lauen Sommerwind um die Nasen wehen lassen könnten – die Begeisterung der Fans würde wahrscheinlich keine Grenzen kennen, erschwingliche Fahrpreise vorausgesetzt. „Weltkulturerbe“lautet das Zauberwort, das auch längst schon in die Debatte geworfen worden ist, um die Zukunft dieser Bergstrecke für immer zu sichern.
Täglich wohl nur 500 Passagiere
Bislang reisen täglich rund 8000 Menschen per Bahn über den Gotthard. Die SBB rechnen damit, dass sich diese Zahl nach Eröffnung des neuen Tunnels verdoppelt, auf der Bergstrecke, einer der schönsten Europas und einem Monument der Ingenieurskunst des 19. Jahrhunderts, aber nur noch etwa 500 unterwegs sein werden. Für die Dörfer des oberen Reusstals, die schon länger unter Abwanderung leiden, wäre es eine Katastrophe, wenn sie von der Bahn abgehängt würden. Ihre Chance ist vor allem der Tourismus.
Doch diese Probleme sind zunächst einmal Nebensache, denn nun wird am 1. Juni erst einmal die Eröffnung des neuen Gotthard-Basistunnels gebührend gefeiert werden, allerdings etwas anders als die des alten, viel kürzeren Tunnels auf dem Scheitel der Bergstrecke vor 134 Jahren. Zwar wird auch die aktuelle Tunneleinweihung als politisches Gipfeltreffen und Event der friedlichen Völkerverbindung begangen. Aber, so bemerkt die „Berner Zeitung“in einem Beitrag unter der Überschrift „Warum Politiker gerne Tunnel taufen“, die Zeiten hätten „sich seit 1882 insofern geändert, als die Staatschefs am 1. Juni bei der Tunneljungfernfahrt dem normalen Volk den Vortritt lassen. Sie werden als gute Demokraten zuschauen, wie 1000 ausgeloste Schweizerinnen und Schweizer mit den ersten zwei Zügen durch die Tunnelröhre rauschen.“