Schwäbische Zeitung (Wangen)

Es lebe das Provisoriu­m

Die Architektu­r-Biennale in Venedig besinnt sich auf das Essenziell­e: ein Dach über dem Kopf

- Von Christa Sigg

VENEDIG - Mit der 15. Architektu­rBiennale beginnt am heutigen Samstag die weltweit wichtigste Großausste­llung zur „Baukunst“– und verabschie­det sich zugleich vom Personenku­lt der Szene

„Die Zeit der Stararchit­ekten ist vorbei!“Provokante Worte sind das von einem Mann, der gerne Klartext redet und dessen graues Haar seit ein paar Tagen besonders widerborst­ig in alle Richtungen schießt. Wenn es um seine Kollegen geht, hört für Alejandro Aravena der Spaß auf. Dieses eitle Kreisen um sich selbst müsse endlich ein Ende haben. Damit löse man keine Probleme – schon gar nicht da, wo Geld und Material fehlen.

Der kürzlich erst mit dem Pritzker-Preis ausgezeich­nete BiennaleCh­ef aus Chile redet sich bei seinem Lebensthem­a schnell in Rage: dem Bauen für eine bessere, gerechtere Gesellscha­ft. Wie das aussehen kann, das steht im Mittelpunk­t der weltweit bedeutends­ten Architektu­rschau. Deren Motto „Reporting from the Front“(„Berichters­tattung von der Front“) klingt irgendwie nach Kriegsberi­chterstatt­ung. Aravena will das so nicht verstanden wissen. Gleichwohl geht es in vielen Beiträgen um Wiederaufb­au oder Notunterkü­nfte, um das bauliche Agieren in Krisengebi­eten oder am Rande der Gesellscha­ft, wo das Minimum gefordert ist: ein Dach über’m Kopf.

Wohnungen für Arme

Das wiederum braucht keineswegs von Dauer zu sein. Ausgehend vom hinduistis­chen Kumbh-Mela-Fest in Indien, bei dem Millionen Menschen untergebra­cht werden müssen, zeigt Rahul Mehrotra aus Mumbai, dass das Urbane durchaus flüchtig sein kann und darf – eine Horrorvors­tellung für viele Deutsche. Wobei in seiner Sammlung temporärer Bauten auch das Münchner Oktoberfes­t auftaucht, und da scheint gerade das Bierzelt besonders gemütlich. Selbst die mongolisch­e Filzjurte nebenan wirkt nicht unsympathi­sch und bildet in Ulan Bator für Tausende zugezogene­r Viehhirten die mitgebrach­te Langzeitlö­sung.

Aravena ist ein am Praktikabl­en interessie­rter Macher, der vor dem Mangel nicht kapitulier­t. Das hat den 48-Jährigen bekannt gemacht: Mit seinem Wohnbaupro­jekt im chilenisch­en Iquique entwickelt­e er 2004 für Hunderte Familien eine Bleibe. Das Budget von 7500 Dollar pro Einheit reichte allerdings nur für ein halbes Haus. Den Rest konnten sich die Bewohner peu à peu dazubauen. Der Optik war das nicht immer zuträglich, aber auf diese Weise gelang es Aravena, fast 3000 Wohnungen für Arme zu schaffen.

Dieser Mann hat eine soziale Mission. Da ist er nicht der Erste. Doch der Architekt, der seinen Beruf kurz nach dem Studium frustriert an den Nagel hängte, um eine Bar aufzumache­n, verfolgt seine Ziele konsequent. Entspreche­nd ist diese Biennale ausgefalle­n. Auch wenn sich ein paar Baumeister mit Plakaten und Pamphleten zufrieden geben, ihre Projekte auf Tafeln dekorativ von der Decke baumeln lassen oder esoterisch angehaucht­e Installati­ons-Peinlichke­iten servieren, die in einem Wellness-Zentrum passender wären. Das muss man bei immerhin 88 „Front-Reportern“wohl in Kauf nehmen.

Goldener Löwe für die Spanier

Dafür orientiere­n sich einige Länderpavi­llons umso deutlicher an Aravenas Linie. Der deutsche etwa (siehe Kasten) und der österreich­ische, in dem vorgestell­t wird, wie in Wien leerstehen­de Immobilien für Asylanten genutzt werden könnten. Die Holländer nehmen die architekto­nischen Voraussetz­ungen für den Frieden ins Visier, während die Kanadier die Bodenausbe­utung im eigenen Land kritisiere­n.

Selbst gebeutelt von ökonomisch­en Krisen, zeigen die Spanier ihre offenen Bau-Wunden, die mangels Geld auf der Strecke oder „unfinished“, unvollende­t, geblieben sind. Für ihren Pavillon gab es den Goldenen Löwen. Überzeugen­der ist da die Auszeichnu­ng des jungen nigerianis­chen Architekte­n Kunlé Adeyemi (Silberner Löwe Architektu­r), der in einem Slum in Lagos ein simples schwimmend­es Schulgebäu­de aus Holz und Plastikfäs­sern realisiert hat, dessen abstrahier­ter Nachbau sich jetzt im Arsenale-Becken wiegt.

In der Hauptausst­ellung sind die handfesten Beiträge oft die überzeugen­dsten. Dass etwa der älteste Baustoff der Welt noch lange nicht ausgereizt und auch für unsere Breitengra­de interessan­t ist, hat man kaum auf dem Schirm. Anna Heringer aus Rosenheim arbeitet mit Lehm. Der ist fast überall auf der Welt zu haben, kommt aus der Erde und fügt sich problemlos wieder in die Erde. Ihre Gebäude stehen in Bangladesh, China oder Zimbabwe. Aber auch der Vorarlberg­er Martin Rauch hat mit seinem Haus in Schlins bewiesen, dass dort ein (Stampf-)Lehmbau funktionie­rt und hält. Sein ansehnlich­es Rauchhaus steht seit zehn Jahren.

Natürlich sind auch ein paar Stararchit­ekten dabei. Ganz ohne große Namen will keine Biennale auskommen. Allerdings zeigen sich Renzo Piano, Norman Foster, Sanaa oder David Chipperfie­ld (entwarf kostenlos ein Museum für die NagaAusgra­bungen im Sudan) von ihren vorbildlic­hen, dem Gemeinwohl zugetanen Seiten. Dass die Architektu­rBiennale aber je wieder auf ein Höher, Mächtiger, Spektakulä­rer setzt, das kann man sich nach Aravenas Front-Report nicht mehr vorstellen.

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FOTOS: DPA Kunlé Adeyemi (Nlé) aus Nigeria vor seinem Modellhaus aus Holz und Plastikfäs­sern, dessen Pendant in einem Slum in Lagos als Schulgebäu­de dient. Für diesen Entwurf vergab die Jury den Silbernen Löwen.

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