Es lebe das Provisorium
Die Architektur-Biennale in Venedig besinnt sich auf das Essenzielle: ein Dach über dem Kopf
VENEDIG - Mit der 15. ArchitekturBiennale beginnt am heutigen Samstag die weltweit wichtigste Großausstellung zur „Baukunst“– und verabschiedet sich zugleich vom Personenkult der Szene
„Die Zeit der Stararchitekten ist vorbei!“Provokante Worte sind das von einem Mann, der gerne Klartext redet und dessen graues Haar seit ein paar Tagen besonders widerborstig in alle Richtungen schießt. Wenn es um seine Kollegen geht, hört für Alejandro Aravena der Spaß auf. Dieses eitle Kreisen um sich selbst müsse endlich ein Ende haben. Damit löse man keine Probleme – schon gar nicht da, wo Geld und Material fehlen.
Der kürzlich erst mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnete BiennaleChef aus Chile redet sich bei seinem Lebensthema schnell in Rage: dem Bauen für eine bessere, gerechtere Gesellschaft. Wie das aussehen kann, das steht im Mittelpunkt der weltweit bedeutendsten Architekturschau. Deren Motto „Reporting from the Front“(„Berichterstattung von der Front“) klingt irgendwie nach Kriegsberichterstattung. Aravena will das so nicht verstanden wissen. Gleichwohl geht es in vielen Beiträgen um Wiederaufbau oder Notunterkünfte, um das bauliche Agieren in Krisengebieten oder am Rande der Gesellschaft, wo das Minimum gefordert ist: ein Dach über’m Kopf.
Wohnungen für Arme
Das wiederum braucht keineswegs von Dauer zu sein. Ausgehend vom hinduistischen Kumbh-Mela-Fest in Indien, bei dem Millionen Menschen untergebracht werden müssen, zeigt Rahul Mehrotra aus Mumbai, dass das Urbane durchaus flüchtig sein kann und darf – eine Horrorvorstellung für viele Deutsche. Wobei in seiner Sammlung temporärer Bauten auch das Münchner Oktoberfest auftaucht, und da scheint gerade das Bierzelt besonders gemütlich. Selbst die mongolische Filzjurte nebenan wirkt nicht unsympathisch und bildet in Ulan Bator für Tausende zugezogener Viehhirten die mitgebrachte Langzeitlösung.
Aravena ist ein am Praktikablen interessierter Macher, der vor dem Mangel nicht kapituliert. Das hat den 48-Jährigen bekannt gemacht: Mit seinem Wohnbauprojekt im chilenischen Iquique entwickelte er 2004 für Hunderte Familien eine Bleibe. Das Budget von 7500 Dollar pro Einheit reichte allerdings nur für ein halbes Haus. Den Rest konnten sich die Bewohner peu à peu dazubauen. Der Optik war das nicht immer zuträglich, aber auf diese Weise gelang es Aravena, fast 3000 Wohnungen für Arme zu schaffen.
Dieser Mann hat eine soziale Mission. Da ist er nicht der Erste. Doch der Architekt, der seinen Beruf kurz nach dem Studium frustriert an den Nagel hängte, um eine Bar aufzumachen, verfolgt seine Ziele konsequent. Entsprechend ist diese Biennale ausgefallen. Auch wenn sich ein paar Baumeister mit Plakaten und Pamphleten zufrieden geben, ihre Projekte auf Tafeln dekorativ von der Decke baumeln lassen oder esoterisch angehauchte Installations-Peinlichkeiten servieren, die in einem Wellness-Zentrum passender wären. Das muss man bei immerhin 88 „Front-Reportern“wohl in Kauf nehmen.
Goldener Löwe für die Spanier
Dafür orientieren sich einige Länderpavillons umso deutlicher an Aravenas Linie. Der deutsche etwa (siehe Kasten) und der österreichische, in dem vorgestellt wird, wie in Wien leerstehende Immobilien für Asylanten genutzt werden könnten. Die Holländer nehmen die architektonischen Voraussetzungen für den Frieden ins Visier, während die Kanadier die Bodenausbeutung im eigenen Land kritisieren.
Selbst gebeutelt von ökonomischen Krisen, zeigen die Spanier ihre offenen Bau-Wunden, die mangels Geld auf der Strecke oder „unfinished“, unvollendet, geblieben sind. Für ihren Pavillon gab es den Goldenen Löwen. Überzeugender ist da die Auszeichnung des jungen nigerianischen Architekten Kunlé Adeyemi (Silberner Löwe Architektur), der in einem Slum in Lagos ein simples schwimmendes Schulgebäude aus Holz und Plastikfässern realisiert hat, dessen abstrahierter Nachbau sich jetzt im Arsenale-Becken wiegt.
In der Hauptausstellung sind die handfesten Beiträge oft die überzeugendsten. Dass etwa der älteste Baustoff der Welt noch lange nicht ausgereizt und auch für unsere Breitengrade interessant ist, hat man kaum auf dem Schirm. Anna Heringer aus Rosenheim arbeitet mit Lehm. Der ist fast überall auf der Welt zu haben, kommt aus der Erde und fügt sich problemlos wieder in die Erde. Ihre Gebäude stehen in Bangladesh, China oder Zimbabwe. Aber auch der Vorarlberger Martin Rauch hat mit seinem Haus in Schlins bewiesen, dass dort ein (Stampf-)Lehmbau funktioniert und hält. Sein ansehnliches Rauchhaus steht seit zehn Jahren.
Natürlich sind auch ein paar Stararchitekten dabei. Ganz ohne große Namen will keine Biennale auskommen. Allerdings zeigen sich Renzo Piano, Norman Foster, Sanaa oder David Chipperfield (entwarf kostenlos ein Museum für die NagaAusgrabungen im Sudan) von ihren vorbildlichen, dem Gemeinwohl zugetanen Seiten. Dass die ArchitekturBiennale aber je wieder auf ein Höher, Mächtiger, Spektakulärer setzt, das kann man sich nach Aravenas Front-Report nicht mehr vorstellen.