Ein Menü für Pilger auf dem Jakobsweg
Zu Fuß von München nach Lindau mit Station im Pilgerzentrum Scheidegg
SCHEIDEGG/WESTALLGÄU - 32 Kilometer sind Melanie Schädelbauer und Simon Hayward heute schon gewandert. Von Wilhams ging es auf dem Jakobsweg nach Scheidegg. Sie tragen große Rucksäcke, Regenjacken, Wanderschuhe und Mützen. Erschöpft kommen die beiden am Pilgerzentrum in Scheidegg an. Sie freuen sich darauf, dort ihr Gepäck abzulegen, ein Bier zu trinken und andere Pilger zu treffen.
Der Herbergsvater Werner Schroth empfängt die neuen Gäste. In zwei Schlafsälen mit jeweils acht Betten können die Pilger übernachten. Auf der 270 Kilometer langen Strecke von München nach Lindau sind viele Wanderer unterwegs und übernachten entlang des Weges ein Dutzend mal. In Scheidegg verbringen viele Pilger den ersten Abend mit Gleichgesinnten. „Wir sind das einzige richtige Pilgerzentrum auf dem Weg. Daher haben wir die Räumlichkeiten bewusst mit Stockbetten ausgestattet“, sagt Werner Schroth. Die Pilger sollen ein Gefühl dafür bekommen, wie es ist, in anderen Ländern zu wandern und mit anderen Menschen in einem Raum zu schlafen. „Einmal kamen 26 Menschen hier an. Dann haben wir ein Matratzenlager gemacht“, erzählt Schroth. Im Pilgerzentrum gibt es außerdem einen Aufenthaltsraum, Duschen und Toiletten, eine Waschmaschine, einen Trockner, eine Terrasse und ein Zimmer für Pilgereltern.
In der offenen Küche im Eingangsbereich bereitet der Herbergsvater das Abendessen vor: KarottenIngwer-Suppe, Salat, Penne al Arrabiata und Panna Cotta stehen heute auf dem Speiseplan. Der 66-Jährige bemüht sich vollwertig zu kochen. Er ist selbst schon viel gepilgert und weiß, dass Wanderer ein gutes Essen brauchen, wenn sie so lange unterwegs sind. Das gemeinsame Pilgermahl ist auch ein schöner Abschluss nach mehrtägiger Wanderung, denn für viele ist es der letzte Abend der Reise. Die meisten gehen am nächsten Tag nach dem Frühstück nach Bregenz, fahren dann mit dem Schiff nach Lindau und von dort mit dem Zug wieder zurück nach München.
Helmut Feichtinger geht dem Herbergsvater zur Hand. Er nimmt ein Messer und schneidet Tomaten. Für den Grazer ist das Pilgern wie eine Sucht. In den letzten zwölf Jahren ist er 10 000 Kilometer gelaufen. Diesmal wandert er von München nach Genf, in Scheidegg legt er einen Zwischenstopp für ein paar Tage ein. „Wichtig beim Pilgern ist, dass man sich selber aushalten kann“, sagt der 65-Jährige.
Von Genhofen nach Genf
Acht Pilger sitzen heute am Tisch zusammen: ein Mann und sieben Frauen. Sie trinken Wein, essen und erzählen einander von ihren Erfahrungen, besprechen die nächsten Etappen. Manche sind allein unterwegs, andere zu zweit oder zu dritt. „Wenn man allein unterwegs ist, ist man für sich selbst verantwortlich und muss alles selbst managen. Das ist für mich ein Schritt in die Freiheit“, sagt Karin Jäckle. Sie pilgert von Bad Grönenbach nach Lindau. An den ersten beiden Tagen ist die 48-jährige Heilerziehungspflegerin 35 und 25 Kilometer gewandert. „Heute war das Wetter so schlecht, da bin ich ein Stück mit Bus und Zug gefahren“, sagt Jäckle. Nur von Lindenberg nach Scheidegg ist sie zu Fuß gegangen. Beim Pilgern muss man flexibel sein.
Elfi Demetz aus Kaufbeuren ist heute morgen in Genhofen aufgebrochen. „Mein Endziel ist Genf“, sagt die 68-Jährige. Vier Wochen hat sie für den Jakobsweg eingeplant. Sie möchte beim Pilgern zur Ruhe kommen und freut sich darauf, jeden Tag etwas Neues zu sehen. Und jeden Tag ist sie gespannt, wie weit sie ihre Füße heute tragen.
„Viele offene Leute“
Als Herbergsvater trifft der frühere Unternehmer Werner Schroth auf „viele offene Leute mit interessanten Geschichten“. Er will nichts anderes mehr machen als hier zu arbeiten. Vor knapp zwei Jahren kam der heute 66-Jährige nach Scheidegg – auf einer Pilgerreise. Er zog aus der Nähe von Karlsruhe in die Allgäuer Marktgemeinde, und seit eineinhalb Jahren arbeitet er dort als Herbergsvater. Schroth kocht, übernimmt die Hausmeisteraufgaben und schaut, dass sich die Gäste wohlfühlen. Manche Männer und Frauen haben ihm ihre Geschichten erzählt. Auf dem Jakobsweg versuchen sie, über eine Trennung hinwegzukommen oder nach einem Burnout wieder zu sich selbst zu finden. „Beim Pilgern merken viele, dass man auch mit wenig glücklich sein kann“, sagt Werner Schroth. An Ostern, Pfingsten und in den Sommermonaten Juli und August kommen die meisten Pilger.
Eine Sache begeistert alle Wanderer: die Freundlichkeit der Menschen, denen sie auf ihrem Weg begegnen. „Irgendjemand hilft einem immer weiter“, sagt Karin Jäckle.