Britische Bankenwelt gegen Brexit
Finanzindustrie wirbt für Ja zu Europa bei Referendum am 23. Juni – Kritik an Kampagne
LONDON - Im Wahlkampf vor dem Referendum am 23. Juni über Großbritanniens EU-Zukunft sagen beide Seiten nicht die Wahrheit. Zu diesem Schluss kommt der einflussreiche Finanzausschuss des Unterhauses in London in einem neuen Bericht. Das „Wettrennen von immer schrecklicheren Vorhersagen” sei schlecht für das politische Klima, heißt es darin. Rund drei Wochen vor der Schicksalsabstimmung hat sich indes die einflussreiche britische Finanzindustrie eindeutig für den Verbleib des Landes im Brüsseler Club ausgesprochen.
Das Brexit-Referendum stelle „das wichtigste Votum der letzten 50 Jahre in Europa” dar, sagte in der vergangenen Woche der höchste politische Vertreter der City of London, Mark Boleat. „Ein Brexit würde nicht nur Großbritannien verändern, sondern auch massive Auswirkungen auf die EU haben.” Boleat fungiert als Lobbyist für die Finanzindustrie, die auf der Insel rund eine Million Menschen beschäftigt und rund zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet.
„Schwerer Schock“
Mit täglichen, drastischen Warnungen vor einem Wirtschaftseinbruch wirbt das pro-europäische Lager des Premiers David Cameron seit Wochen für ein Ja der Briten zur fortgesetzten EU-Mitgliedschaft. Zuletzt hat ein Gutachten des Finanzministeriums bestätigt, was auch unabhängige Wirtschaftsinstitute, der Gouverneur der Zentralbank sowie der IWF vorhersagen: Sollte das Land für den Austritt stimmen, müsse man mit einem „schweren kurz- bis mittelfristigen Schock” rechnen. Statt des bisher prognostizierten stetigen Wachstums würde dann das Bruttoinlandsprodukt binnen zwei Jahren um 3,6 Prozent sinken, 820 000 Jobs würden verlorengehen. „Diese hausgemachte Wirtschaftskrise sollten wir vermeiden”, sagt Cameron.
In den vergangenen Monaten ergriffen mehrere große Unternehmen mit mehr als 1,2 Millionen Beschäftigten Partei für das Ja-Lager. Dazu zählten Banken wie HSBC, Credit Suisse und Standard Chartered, Pharma-Giganten wie GlaxoSmithKline (GSK) und AstraZeneca und die Energie-Konzerne BP sowie Royal Dutch/Shell. Zuletzt war jedoch von den Industrievertretern wenig zu hören. Das habe mit „allerlei Unerfreulichkeiten” in der Debatte zu tun, erklärte jetzt der City-Cheflobbyist Mark Boleat. Vielen Bankern sei die emotional geführte Kampagne „nicht angenehm”, sagte er.
Auch viele Bürger stören sich am Niveau der Debatte. „Und damit haben sie recht”, sagt Andrew Tyrie, der konservative Chef des Finanzausschusses im Westminster-Parlament. Dessen Bericht über die ökonomischen Aspekte der britischen EU-Mitgliedschaft geht mit den Politikern beider Seiten hart ins Gericht. Als schlimmste Irreführung nennt Tyrie jedoch die Behauptung der EU-Feinde, der Brüsseler Club koste das Land jede Woche 350 Millionen Pfund (460 Millionen Euro): „Das ist einfach nicht wahr”. In Wahrheit seien es 145 Millionen Euro.
Aber auch die Regierung wird kritisiert. So gibt es Tadel für die Behauptung des Finanzministers George Osborne, ein EU-Austritt würde jede Familie 4300 Pfund (5651 Euro) pro Jahr kosten. Diese Zahlen ohne einen vernünftigen Kontext stelle das Finanzministerium „falsch” dar, heißt es im Gutachten.
Keine Alternative zur EU
City-Vertreter Boleat will nicht die negativen Folgen eines Brexit exakt beziffern. Er stellt jedoch klar: „Es gibt zu unserer Mitgliedschaft keine befriedigende Alternative.” Sollte Großbritannien die EU verlassen, müsste sich der wichtigste internationale Finanzplatz Europas auf eine Abwanderung von Arbeitsplätzen gefasst machen. So hat der HSBCKonzern die Verlegung von rund tausend Jobs nach Paris in Aussicht gestellt. „Chinesische Banken könnten ihr Europa-Geschäft nach Luxemburg verlegen”, glaubt Boleat. Europa würde Teile seiner Finanzindustrie an Amerika und Asien verlieren.
Auch neutrale Beobachter sehen die Insel gefährdet. Die Ratingagentur Moody’s stellt eine Abwertung in Aussicht, falls das Land für den Brexit stimmen würde: Dessen ökonomische Vorteile würden durch die erheblichen Nachteile mehr als wettgemacht. „Wahrscheinlich käme es zu einer Unsicherheitsphase, die sich negativ auf die Investitionen auswirken würde”, glaubt Moody’s.