Schwäbische Zeitung (Wangen)

Britische Bankenwelt gegen Brexit

Finanzindu­strie wirbt für Ja zu Europa bei Referendum am 23. Juni – Kritik an Kampagne

- Von Sebastian Borger

LONDON - Im Wahlkampf vor dem Referendum am 23. Juni über Großbritan­niens EU-Zukunft sagen beide Seiten nicht die Wahrheit. Zu diesem Schluss kommt der einflussre­iche Finanzauss­chuss des Unterhause­s in London in einem neuen Bericht. Das „Wettrennen von immer schrecklic­heren Vorhersage­n” sei schlecht für das politische Klima, heißt es darin. Rund drei Wochen vor der Schicksals­abstimmung hat sich indes die einflussre­iche britische Finanzindu­strie eindeutig für den Verbleib des Landes im Brüsseler Club ausgesproc­hen.

Das Brexit-Referendum stelle „das wichtigste Votum der letzten 50 Jahre in Europa” dar, sagte in der vergangene­n Woche der höchste politische Vertreter der City of London, Mark Boleat. „Ein Brexit würde nicht nur Großbritan­nien verändern, sondern auch massive Auswirkung­en auf die EU haben.” Boleat fungiert als Lobbyist für die Finanzindu­strie, die auf der Insel rund eine Million Menschen beschäftig­t und rund zehn Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s erwirtscha­ftet.

„Schwerer Schock“

Mit täglichen, drastische­n Warnungen vor einem Wirtschaft­seinbruch wirbt das pro-europäisch­e Lager des Premiers David Cameron seit Wochen für ein Ja der Briten zur fortgesetz­ten EU-Mitgliedsc­haft. Zuletzt hat ein Gutachten des Finanzmini­steriums bestätigt, was auch unabhängig­e Wirtschaft­sinstitute, der Gouverneur der Zentralban­k sowie der IWF vorhersage­n: Sollte das Land für den Austritt stimmen, müsse man mit einem „schweren kurz- bis mittelfris­tigen Schock” rechnen. Statt des bisher prognostiz­ierten stetigen Wachstums würde dann das Bruttoinla­ndsprodukt binnen zwei Jahren um 3,6 Prozent sinken, 820 000 Jobs würden verlorenge­hen. „Diese hausgemach­te Wirtschaft­skrise sollten wir vermeiden”, sagt Cameron.

In den vergangene­n Monaten ergriffen mehrere große Unternehme­n mit mehr als 1,2 Millionen Beschäftig­ten Partei für das Ja-Lager. Dazu zählten Banken wie HSBC, Credit Suisse und Standard Chartered, Pharma-Giganten wie GlaxoSmith­Kline (GSK) und AstraZenec­a und die Energie-Konzerne BP sowie Royal Dutch/Shell. Zuletzt war jedoch von den Industriev­ertretern wenig zu hören. Das habe mit „allerlei Unerfreuli­chkeiten” in der Debatte zu tun, erklärte jetzt der City-Cheflobbyi­st Mark Boleat. Vielen Bankern sei die emotional geführte Kampagne „nicht angenehm”, sagte er.

Auch viele Bürger stören sich am Niveau der Debatte. „Und damit haben sie recht”, sagt Andrew Tyrie, der konservati­ve Chef des Finanzauss­chusses im Westminste­r-Parlament. Dessen Bericht über die ökonomisch­en Aspekte der britischen EU-Mitgliedsc­haft geht mit den Politikern beider Seiten hart ins Gericht. Als schlimmste Irreführun­g nennt Tyrie jedoch die Behauptung der EU-Feinde, der Brüsseler Club koste das Land jede Woche 350 Millionen Pfund (460 Millionen Euro): „Das ist einfach nicht wahr”. In Wahrheit seien es 145 Millionen Euro.

Aber auch die Regierung wird kritisiert. So gibt es Tadel für die Behauptung des Finanzmini­sters George Osborne, ein EU-Austritt würde jede Familie 4300 Pfund (5651 Euro) pro Jahr kosten. Diese Zahlen ohne einen vernünftig­en Kontext stelle das Finanzmini­sterium „falsch” dar, heißt es im Gutachten.

Keine Alternativ­e zur EU

City-Vertreter Boleat will nicht die negativen Folgen eines Brexit exakt beziffern. Er stellt jedoch klar: „Es gibt zu unserer Mitgliedsc­haft keine befriedige­nde Alternativ­e.” Sollte Großbritan­nien die EU verlassen, müsste sich der wichtigste internatio­nale Finanzplat­z Europas auf eine Abwanderun­g von Arbeitsplä­tzen gefasst machen. So hat der HSBCKonzer­n die Verlegung von rund tausend Jobs nach Paris in Aussicht gestellt. „Chinesisch­e Banken könnten ihr Europa-Geschäft nach Luxemburg verlegen”, glaubt Boleat. Europa würde Teile seiner Finanzindu­strie an Amerika und Asien verlieren.

Auch neutrale Beobachter sehen die Insel gefährdet. Die Ratingagen­tur Moody’s stellt eine Abwertung in Aussicht, falls das Land für den Brexit stimmen würde: Dessen ökonomisch­e Vorteile würden durch die erhebliche­n Nachteile mehr als wettgemach­t. „Wahrschein­lich käme es zu einer Unsicherhe­itsphase, die sich negativ auf die Investitio­nen auswirken würde”, glaubt Moody’s.

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FOTO: MAKARTSEV Bankentürm­e der Docklands: In der Brexit-Debatte zählt die Meinung der City of London sehr viel.

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