Kinder sterben immer zu früh
Der ambulante Kinderhospizdienst „Amalie“hilft Familien in der schwersten Zeit des Lebens
FRIEDRICHSHAFEN - Kurz vor ihrem Geburtstag stirbt Sophia. Die Ärzte hatten ihr ein Jahr gegeben, jetzt waren es fast sieben. Schon in der Schwangerschaft war klar, dass Sophia anders sein würde. Gleich nach ihrer Geburt brauchte sie medizinische Unterstützung: Sie musste auf die Frühchen-Station, es wurden Tests gemacht. Nach einem halben Jahr stand die Diagnose fest: Lungenhochdruck, Fehlfunktion der Nieren, Seh- und Hörschädigungen. Sie konnte nur schwer alleine atmen und musste mit Sauerstoff versorgt werden. Die Ärzte waren sich sicher: Sie wird sterben.
Nach einem Jahr stabilisierte sich Sophias Situation. Sie musste nicht mehr so oft ins Krankenhaus, war mehr bei ihrer Familie. „Wir konnten diese Art von Leben gemeinsam genießen“, sagt ihr Vater Andreas Rundel. Sophia meisterte ihr Leben in kleinen Schritten, mit drei Jahren kommt sie sogar in einen integrativen Kindergarten. „Man hat es nie gemerkt, dass sie todkrank war. Sie hat immer gelacht, war immer fröhlich.“
Dann, mit sechs Jahren, geht es ihr schlechter, ihr Körper wird schwächer. Schnell steht fest, dass es nur eine einzige Möglichkeit gibt, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen: Eine mehrstündige Operation, bei der eine 50-50-Chance besteht, dass Sophia überlebt. Sie schafft es nicht und stirbt.
Rückblick: Etwa zwei Monate zuvor entscheidet sich die Familie, Kontakt mit dem ambulanten Kinderhospizdienst Amalie aufzunehmen. Schon lange haben Krankenschwestern und Bekannte ihnen zu diesem Schritt geraten. „Wir haben uns jedoch immer davor gescheut“, sagt Andreas Rundel. Für ihn und seine Frau Manuela war der Begriff „Hospiz“mit Aufgeben und Sterben verbunden. „Wir haben es zu lange von uns weggeschoben.“
Im Jahr 2011 gründeten die Malteser und die Stiftung Liebenau den ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienst für den Bodenseekreis und den Landkreis Ravensburg. Barbara Weiland koordiniert die Einsätze am See. Sie sieht den Dienst nicht als Sterbe-, sondern als Lebensbegleitung.
Familie Rundel hat diesen Grundsatz mit der Zeit verstanden. Vor allem habe es geholfen, mit jemandem außerhalb der Familie über Sophias Situation und den Tod zu reden, „mit jemandem, der sich unsere Situation anhört und professionell damit umgeht“, sagt Vater Andreas Rundel. Freunde, Bekannte und Familie waren mit der Situation überfordert: „Sie versuchten uns zu schützen und das Wort ‚Tod‘ nicht in den Mund zu nehmen.“Mit dem Hospizdienst war jemand da, der die Fakten auf den Tisch legte, bei dem Sophias Eltern weinen konnten und bei dem sie Unterstützung bekamen.
Im Unterschied zu einem Hospizdienst für ältere Menschen fängt die Arbeit des ambulanten Kinderhospizdienstes schon vor der letzten Lebensphase an. Die Familien werden vom Zeitpunkt der Diagnose an begleitet. Vor allem die Geschwisterkinder stehen im Mittelpunkt. Denn in einer Familie, die mit einem solchen Schicksal zurechtkommen muss, liegt der Hauptfokus auf dem kranken Kind. Auch bei Sophia war das so, ihr ältere Schwester Franka kam oft zu kurz.
Für diese Geschwisterkinder stellt der ambulante Kinderhospizdienst derzeit rund 40 ehrenamtliche Paten. Eine von ihnen ist Bärbel MeierWichmann. Sie besucht die Familien, nimmt die Kinder zu sich nach Hause, macht mit ihnen Hausaufgaben, bringt sie zum Sport – sie bietet ihnen Alltag. Diese Begleitung gibt den Familien Kraft, Mut und Freude. Auch Familie Rundel habe bei jedem Gespräch mit den Mitarbeitern des Hospizdienstes gemerkt, dass man mit schweren Schicksalsschlägen auch lebensbejahend umgehen kann. „Wir haben das Vertrauen bekommen, dass es weitergeht und man positiv denken kann“, sagte Vater Andreas. „Egal was passiert.“
Schon vor Sophias Tod haben viele Mitleid mit Andreas, Manuela und Franka Rundel. Oft hören sie die Frage: „Wie könnt ihr damit umgehen, dass Sophia sterben wird?“In der Situation sieht die Familie jedoch eine Chance: „Wir wussten, was auf uns zukommt, und konnten die Zeit mit Sophia daher fröhlich nutzen.“Auch Sophia habe mitgelacht und sei immer fröhlich gewesen.
Kinder trauern anders
Der Tod von Kindern ist trotz des Kinderhospizes nach wie vor ein gesellschaftliches Tabuthema. Die Gesellschaft geht nicht unweigerlich davon aus, dass Kinder lebensbedrohlich, unheilbar erkranken. Manche betroffenen Familien trauen sich daher nicht mehr, am normalen öffentlichen Leben teilzunehmen. „Es stört unser Verständnis vom Lebenskreis, wenn man als Eltern erfahren muss, dass das eigene Kind früher sterben wird als man selbst“, sagt Koordinatorin Barbara Weiland. Eine lebensbedrohliche Erkrankung sei ein großer Einschnitt für das eigene Lebenskonzept. Viele der rund 20 Familien, die der Dienst derzeit begleitet, fühlten sich hilflos und isoliert.
Auch Sophias ältere Schwester Franka konnte nur schwer mit dem Verlust umgehen. Deshalb besuchte die Elfjährige die Kindertrauergruppe des Hospizdienstes. Dort konnte sie mit anderen Kindern über ihre verstorbene Schwester reden, sie spürte, dass sie nicht allein mit ihrer Situation ist und es anderen Kindern genauso geht. Auch ihre Mutter Manuela bemerkte das: „Sie konnte nach den Gruppenstunden offener über Sophia sprechen.“
So geht es vielen Kindern, erklärt Bärbel Meier-Wichmann, die neben ihrem Patendienst die Trauergruppe leitet. Nach ihren Erfahrungen trauern Kindern anders als Erwachsene: „Kinder können sich nicht vorstellen, dass ein Mensch nicht mehr wieder kommt.“Erst mit ungefähr zehn Jahren könnten Kinder den Tod reflektieren. Daher würden Erwachsene oft nicht begreifen, warum Kinder fröhlich sind, obwohl jemand gestorben ist. Bei Kindern sei die Trauer nicht unterschwellig vorhanden. „In einem Moment sind sie tieftraurig und wenige Minuten später toben sie mit Freunden im Garten“, erklärt die Mitarbeiterin. Kinder verfügten über andere Formen, um ihrer Trauer Raum zu geben: Sie gehen nicht auf den Friedhof, sondern werden durch Musik oder Spielsachen an den Verstorbenen erinnert. „Kinder darf man in ihrer Trauer nicht mit Erwachsenenaugen anschauen“, so die Patin.
Andreas Rundel, seine Frau Manuela und die gemeinsame Tochter Franka haben es geschafft, die Angst vor dem Wort „Hospiz“zu verlieren. Der Ambulante Kinderhospizdienst um Barbara Weiland hat ihnen dabei geholfen. „Sterben gehört zum Leben dazu“, sagte Weiland. „Auch wenn man krank ist oder trauert, ist man Teil des Lebens.“
„Wir wussten, was auf uns zukommt, und konnten die Zeit mit Sophia daher fröhlich nutzen.“Franka Rundel