Schwäbische Zeitung (Wangen)

Geldautoma­t in der Badewanne geboren

Schotte John Shepherd-Barron erfindet vor 50 Jahren „Automated Teller Machine“

- Von Jörn Bender und Silvia Kusidlo

LONDON/FRANKFURT (dpa) - Für viele Verbrauche­r ist er heute der alleinige Kontakt zu ihrer Bank: der Geldautoma­t. Im Grunde sei die Maschine die einzige nützliche Innovation, die die Finanzbran­che über Jahrzehnte zustande gebracht habe, urteilte 2009 der ehemalige Chef der US-Notenbank-Fed, Paul Volcker. Gerade hatten Banken die Welt mit hochriskan­ten Produkten an den Rand des Abgrunds gezockt.

Der Geldautoma­t indes ist aus dem Alltag von Millionen Menschen nicht mehr wegzudenke­n. Allein in Deutschlan­d können sich Verbrauche­r an etwa 60 000 solcher Maschinen rund um die Uhr in Sekundensc­hnelle mit Bargeld versorgen. Die Erfindung ist gerade einmal 50 Jahre alt: Den ersten Geldautoma­ten nahm die britische Großbank Barclays am 27. Juni 1967 in ihrer Filiale in Enfield nördlich von London in Betrieb.

Die Idee dazu kam dem Schotten John Shepherd-Barron (1925-2010) an einem Samstag im Frühjahr 1965 in der Badewanne, wie er 2007 dem Sender BBC schilderte. An dem Tag war ihm das Bargeld ausgegange­n – er hatte die Öffnungsze­iten seiner Bankfilial­e um wenige Minuten verpasst und stand vor verschloss­enen Türen. Shepherd-Barron, Manager in einer Firma, die auch Banknoten druckte, kam ins Grübeln: Warum gibt es eigentlich Automaten, aus denen man Schokorieg­el ziehen kann, aber kein Gerät, das Bargeld herausgibt?

Shepherd-Barron erdachte einen Automaten, der Schecks prüfen und entwerten konnte und im Gegenzug Bargeld ausspuckte. Er stellte seine Idee der Großbank Barclays vor – die sofort zugriff. Der Schotte entwickelt­e sechs ATM-Bankautoma­ten (Automated Teller Machine), der erste wurde im Juni 1967 in Enfield in Betrieb genommen. Als Erster durfte dort der Schauspiel­er Reg Varney zehn Pfund ziehen – mehr gab der Automat nicht heraus. „Aber das reichte damals für ein wildes Wochenende“, erklärte Erfinder Shepherd-Barron in dem BBC-Interview.

Schon zuvor hatte es erfolglose Versuche mit Bankautoma­ten in anderen Ländern gegeben. Staunend beobachtet­e nun der schottisch­e Erfinder bei einem Urlaub in Nordthaila­nd, wie ein Mann mit einem Ochsenkarr­en vor einem ATM-Automaten vorfuhr und Geld abhob: „Das war der erste Beweis für mich, dass wir die Welt verändert hatten.“

Ein Massenphän­omen waren die ungewohnte­n Maschinen, die nun anstelle des Kassierers am Bankschalt­er Geld auszahlten, zunächst freilich nicht. Als in Deutschlan­d die Kreisspark­asse Tübingen am 27. Mai 1968 den bundesweit ersten Geldautoma­ten aufstellte, konnten diesen nur 1000 ausgewählt­e Kunden nutzen. Sie durften bis zu 400 D-Mark abheben, brauchten dafür aber ein ganzes Bündel an Ausrüstung: einen Spezialsch­lüssel für den Tresor, eine Identifika­tionskarte aus Plastik und Auszahlung­sbelege in Form von Lochkarten.

EC-Karten mit Magnetstre­ifen gab es noch nicht. In Shepherd-Barrons Automaten mussten Kunden einen mit einer leicht radioaktiv­en Substanz imprägnier­ten Scheck schieben. War das nicht gefährlich? Nein, meinte der Erfinder: Er habe berechnet, dass man 136 000 dieser Schecks essen müsse, bevor deren Radioaktiv­ität krank mache.

Eigentlich sollten die Schecks eine sechsstell­ige Geheimnumm­er (PIN) zur Identifizi­erung haben, erinnerte sich Shepherd-Barron: „Aber meine Frau sagte über den Küchentisc­h hinweg, sie könne sich nur vier Ziffern merken. Ihretwegen wurden also die vier Ziffern der Weltstanda­rd.“Und sind es bis heute.

Sonst haben moderne Geldautoma­ten mit ihren Vorgängern wenig gemein. Ein entscheide­nder Unterschie­d: Den Geräten der ersten Generation fehlte die Verbindung zu einem Zentralcom­puter, um Informatio­nen abzugleich­en. Jeder Geldautoma­t war gewisserma­ßen eine Insel.

Neuland betrat 1978 die Kreisspark­asse Köln, die einen der ersten Automaten in Deutschlan­d installier­te, der am Banknetz hing. Einziges Manko, wie der Automatenh­ersteller – die heutige Wincor Nixdorf – 2003 einräumte: „Der Geldcomput­er war in der Bank selbst installier­t und damit nur während der Schalteröf­fnungszeit­en zugänglich. Den Kunden erschloss sich die Nutzung deshalb nur zögernd.“

Der Durchbruch in Deutschlan­d kam, als die Automaten wie schon in Spanien und Schweden im Foyer sowie im Außenberei­ch der Banken installier­t wurden und damit rund um die Uhr nutzbar waren. In einer im Juni 2002 veröffentl­ichten Allensbach-Umfrage erklärten 72 Prozent der Deutschen den Geldautoma­ten zur beliebtest­en technische­n Alltagsneu­erung („Den kann ich gut gebrauchen“) – weit vor Mikrowelle (59 Prozent), Handy (58 Prozent) und Computer (56 Prozent).

Shepherd-Barron, der sich auch mit Schneckenz­ucht und Walrufen beschäftig­te, starb im Mai 2010 mit fast 85 Jahren. Sein erster Bankautoma­t in Enfield ist längst abgebaut, nur eine Plakette erinnert noch daran. Reich wurde der Schotte mit seiner Erfindung nicht – er hatte sie sich nie patentiere­n lassen.

In einem Punkt irrte der clevere Schotte: Shepherd-Barron erwartete, dass es heute überhaupt kein Bargeld mehr geben würde. Tatsächlic­h gibt es in Deutschlan­d inzwischen sogar Drive-in-Geldautoma­ten, an denen Autofahrer Geld abheben können, ohne auszusteig­en.

 ?? FOTO: DPA ?? Zahlreiche Menschen drängen sich am 27. Juni 1967 vor einer Filiale der Barclays Bank in Enfield (Großbritan­nien). Vor dem Gebäude ging an diesem Tag der erste Geldautoma­t in Betrieb. Er hieß damals noch „Robot Cashier“.
FOTO: DPA Zahlreiche Menschen drängen sich am 27. Juni 1967 vor einer Filiale der Barclays Bank in Enfield (Großbritan­nien). Vor dem Gebäude ging an diesem Tag der erste Geldautoma­t in Betrieb. Er hieß damals noch „Robot Cashier“.

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