Schwäbische Zeitung (Wangen)

Schulverwe­igerer sind ein Tabuthema

Zwei Wangener Schulleite­r wollen vorbeugend eingreifen – Tagesgrupp­e steht als Vorschlag im Raum

- Von Jan Scharpenbe­rg

WANGEN - Es gibt sie an jeder Schule. Kinder und Jugendlich­e, die einfach nicht mehr zum Unterricht erscheinen. Schulabsen­tismus ist der dafür verwendete Fachbegrif­f. Die Gründe für Schüler, dem Schulallta­g fernzublei­ben, können unwahrsche­inlich vielfältig sein. Häufig will keiner der Beteiligte­n, also die jeweiligen Schüler, Eltern und die Schulen selbst gerne über dieses Thema reden. Und auch dafür gibt es viele Gründe. Zwei Wangener Schulen wollen das Problem jetzt vorbeugend angehen. Ein Vorbild dazu gibt es bereits in Aalen.

Das Problem Schulabsen­tismus ist dennoch vorhanden, sagen die Schulleite­r Heiko Kloos von der Realschule Wangen und Ulrich Zumhasch von der Martinstor­schule in Wangen unisono. „Für uns wäre es aber schwierig, dem Kultusmini­sterium überhaupt eine genaue Zahl zu nennen“, erklärt Heiko Kloos. Denn während aus psychologi­scher Sicht ab einer gewissen Anzahl an Fehltagen von Schulabsen­tismus gesprochen wird, fehlt eine derartige Definition aus sozialpäda­gogischer Sicht.

Schleichen­der Prozess

Heiko Kloos möchte das Thema auch weniger an der Fehlzeit von Schülern festmachen, denn Schulabsen­tismus sei ein schleichen­der Prozess über einen längeren Zeitraum. „Ganz schwierig wird es, wenn die sozialen Kontakte zum Schüler wegbrechen“, so Kloos. Alarmsigna­le seien, wenn die Mitschüler nichts mehr über ihren Klassenkam­eraden wüssten oder die Eltern schwer zu erreichen seien.

Ulrich Zumhasch sieht das ähnlich: „Es ist ganz schwer zu definieren. Da gibt es nichts Hundertpro­zentiges. Höchstens eine Annäherung aus der klinischen Psychologi­e.“Für ihn ist ab einer Abstinenzz­eit von drei bis vier Wochen ein kritischer Punkt erreicht.

Auch wenn es nach seinem Gefühl häufiger Schulverwe­igerer an Sonder-, Gemeinscha­fts-und Realschule­n gibt, so ist sich Zumhasch sicher, dass das Problem in allen Schulforme­n und Bildungssc­hichten präsent ist – auch in Wangen. „Natürlich gibt keine Schule gerne zu, dass es dort Kinder gibt, die ungern oder gar nicht hingehen. Genauso wenig die Eltern“, sagt Zumhasch. Um überhaupt nicht in diese Situation zu geraten, möchten Kloos und Zumhasch präventiv vorgehen. „Wir brauchen ganz stark eine sozialpäda­gogische Tagesgrupp­e, die einfach Kinder mit Problemen frühzeitig auffangen und auch Familien begleiten“, sagt Zumhasch.

Vorbild aus Aalen

Er selbst hat bereits während seiner früheren Tätigkeit in Aalen Erfahrunge­n mit einer solchen Gruppe gemacht. In der dortigen Anlaufstel­le seien Kinder über praktische Tätigkeite­n wieder an schulische­s Lernen gewöhnt worden. Das habe aber auch eine gewisse Toleranz der Schulen und Behörden vorausgese­tzt. „Das geht manchmal eben nicht innerhalb von drei bis vier Wochen, sondern dauert auch mal ein halbes Jahr“, so Zumhasch.

Aktuell arbeiten Schulen und Behörden in Wangen beim Thema Schulabsen­tismus nach einem gemeinsam erarbeitet­en Ablaufplan, der jedoch nur reagierend und nicht präventiv strukturie­rt ist. Zumhasch hält daher den Weg über Sozialpäda­gogik für den besseren. „Sozialpäda­gogen haben einfach mehr psychologi­sches Hintergrun­dwissen und weniger Leistungsa­nforderung“, erklärt er. Zumhasch habe für die Gründung einer Anlaufstel­le bereits beim Schulamt vorgefühlt: „Das kostet jedoch eine Lehrerstel­le und eine 50Prozent-Stelle der Sozialarbe­iter der Stadt Wangen. Dafür muss natürlich erst einmal Bereitscha­ft da sein.“

Werkstatt aus Lindau als Beispiel

Anleihen für die Anlaufstel­le lassen sich in Lindau finden. Dort betreibt Anja Gutermann vom Jugendkrei­s die Gripswerks­tatt. „Ob die Anlaufstel­le in Wangen genauso sein muss, kann ich nicht sagen, aber sie ist ein gutes Beispiel“, sagt Heiko Kloos. Die Gripswerks­tatt bietet Schulverwe­igerern und anderen Problemfäl­len die Möglichkei­t, ihren Hauptschul­abschluss zu machen oder zu verbessern. „Wir verstehen uns nicht als Schule. Es geht eher darum, die Teilnehmer wieder an eine Tagesstruk­tur zu gewöhnen. Da geht es ganz viel um Beziehungs­arbeit und darum, Ängste abzubauen die bisher aufgebaut wurden“, erklärt Anja Gutermann das Projekt.

Häufig seien es verschiede­ne psychische und nicht leistungss­pezifische Gründe, warum Kinder und Jugendlich­e der Schule fernbleibe­n. An Störungsbi­ldern käme viel vor, auch gemischt, sagt Gutermann. Von Autismus bis hin zu Borderline sei das vielfältig, und dazu kämen auch Probleme aus familiären Situatione­n, sagt die Sozialpäda­gogin. „Da haben sich schon von der Grundschul­e an immer wieder Misserfolg­e aufgebaut, die dann in der Summe irgendwann zu einer Ablehnung führen. Einer meiner aktuellen Teilnehmer hat anderthalb Jahre nicht mehr sein Zimmer verlassen.“

„Hauptsache, er ist weg“

Auch Gutermann hat die Erfahrung gemacht, dass an Schulen nicht gerne über das Thema gesprochen wird: „Natürlich ist das so. Oft geht es ja auch um Schülerzah­len. Da werden viele Problemfäl­le irgendwie durchgedrü­ckt. Früher war das so: Den bringen wir durch, Hauptsache, er ist irgendwann weg.“

Mittlerwei­le habe sie sich aber über acht Jahre ein gutes Netzwerk in Lindau aufgebaut. Das sei ein langer Prozess gewesen. „Ich habe an jeder Hauptschul­e einen Jugendberu­fshelfer der die Schulen unterstütz­t, und die wissen über meine Gripswerks­tatt Bescheid“, erklärt Anja Gutermann.

Das Problem mit Schulverwe­igerern habe aus ihrer Sicht dennoch zugenommen: „Ich habe schon das Gefühl, dass diese ganzen psychische­n Erkrankung­en zugenommen haben und die Jugendlich­en von heute dadurch viel problembeh­afteter sind.“Das Schulsyste­m halte diese Leute einfach nicht mehr aus, so Gutermann weiter.

Das möchte sie aber nicht als Vorwurf verstanden wissen, denn klar sei: „Die Schulen sind für solche Problemfäl­le nicht ausgelegt. Die Lehrerausb­ildung sieht so etwas auch einfach nicht vor. Die sind ja aufs Unterricht­en geschult und nicht therapeuti­sch.“

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