Schulverweigerer sind ein Tabuthema
Zwei Wangener Schulleiter wollen vorbeugend eingreifen – Tagesgruppe steht als Vorschlag im Raum
WANGEN - Es gibt sie an jeder Schule. Kinder und Jugendliche, die einfach nicht mehr zum Unterricht erscheinen. Schulabsentismus ist der dafür verwendete Fachbegriff. Die Gründe für Schüler, dem Schulalltag fernzubleiben, können unwahrscheinlich vielfältig sein. Häufig will keiner der Beteiligten, also die jeweiligen Schüler, Eltern und die Schulen selbst gerne über dieses Thema reden. Und auch dafür gibt es viele Gründe. Zwei Wangener Schulen wollen das Problem jetzt vorbeugend angehen. Ein Vorbild dazu gibt es bereits in Aalen.
Das Problem Schulabsentismus ist dennoch vorhanden, sagen die Schulleiter Heiko Kloos von der Realschule Wangen und Ulrich Zumhasch von der Martinstorschule in Wangen unisono. „Für uns wäre es aber schwierig, dem Kultusministerium überhaupt eine genaue Zahl zu nennen“, erklärt Heiko Kloos. Denn während aus psychologischer Sicht ab einer gewissen Anzahl an Fehltagen von Schulabsentismus gesprochen wird, fehlt eine derartige Definition aus sozialpädagogischer Sicht.
Schleichender Prozess
Heiko Kloos möchte das Thema auch weniger an der Fehlzeit von Schülern festmachen, denn Schulabsentismus sei ein schleichender Prozess über einen längeren Zeitraum. „Ganz schwierig wird es, wenn die sozialen Kontakte zum Schüler wegbrechen“, so Kloos. Alarmsignale seien, wenn die Mitschüler nichts mehr über ihren Klassenkameraden wüssten oder die Eltern schwer zu erreichen seien.
Ulrich Zumhasch sieht das ähnlich: „Es ist ganz schwer zu definieren. Da gibt es nichts Hundertprozentiges. Höchstens eine Annäherung aus der klinischen Psychologie.“Für ihn ist ab einer Abstinenzzeit von drei bis vier Wochen ein kritischer Punkt erreicht.
Auch wenn es nach seinem Gefühl häufiger Schulverweigerer an Sonder-, Gemeinschafts-und Realschulen gibt, so ist sich Zumhasch sicher, dass das Problem in allen Schulformen und Bildungsschichten präsent ist – auch in Wangen. „Natürlich gibt keine Schule gerne zu, dass es dort Kinder gibt, die ungern oder gar nicht hingehen. Genauso wenig die Eltern“, sagt Zumhasch. Um überhaupt nicht in diese Situation zu geraten, möchten Kloos und Zumhasch präventiv vorgehen. „Wir brauchen ganz stark eine sozialpädagogische Tagesgruppe, die einfach Kinder mit Problemen frühzeitig auffangen und auch Familien begleiten“, sagt Zumhasch.
Vorbild aus Aalen
Er selbst hat bereits während seiner früheren Tätigkeit in Aalen Erfahrungen mit einer solchen Gruppe gemacht. In der dortigen Anlaufstelle seien Kinder über praktische Tätigkeiten wieder an schulisches Lernen gewöhnt worden. Das habe aber auch eine gewisse Toleranz der Schulen und Behörden vorausgesetzt. „Das geht manchmal eben nicht innerhalb von drei bis vier Wochen, sondern dauert auch mal ein halbes Jahr“, so Zumhasch.
Aktuell arbeiten Schulen und Behörden in Wangen beim Thema Schulabsentismus nach einem gemeinsam erarbeiteten Ablaufplan, der jedoch nur reagierend und nicht präventiv strukturiert ist. Zumhasch hält daher den Weg über Sozialpädagogik für den besseren. „Sozialpädagogen haben einfach mehr psychologisches Hintergrundwissen und weniger Leistungsanforderung“, erklärt er. Zumhasch habe für die Gründung einer Anlaufstelle bereits beim Schulamt vorgefühlt: „Das kostet jedoch eine Lehrerstelle und eine 50Prozent-Stelle der Sozialarbeiter der Stadt Wangen. Dafür muss natürlich erst einmal Bereitschaft da sein.“
Werkstatt aus Lindau als Beispiel
Anleihen für die Anlaufstelle lassen sich in Lindau finden. Dort betreibt Anja Gutermann vom Jugendkreis die Gripswerkstatt. „Ob die Anlaufstelle in Wangen genauso sein muss, kann ich nicht sagen, aber sie ist ein gutes Beispiel“, sagt Heiko Kloos. Die Gripswerkstatt bietet Schulverweigerern und anderen Problemfällen die Möglichkeit, ihren Hauptschulabschluss zu machen oder zu verbessern. „Wir verstehen uns nicht als Schule. Es geht eher darum, die Teilnehmer wieder an eine Tagesstruktur zu gewöhnen. Da geht es ganz viel um Beziehungsarbeit und darum, Ängste abzubauen die bisher aufgebaut wurden“, erklärt Anja Gutermann das Projekt.
Häufig seien es verschiedene psychische und nicht leistungsspezifische Gründe, warum Kinder und Jugendliche der Schule fernbleiben. An Störungsbildern käme viel vor, auch gemischt, sagt Gutermann. Von Autismus bis hin zu Borderline sei das vielfältig, und dazu kämen auch Probleme aus familiären Situationen, sagt die Sozialpädagogin. „Da haben sich schon von der Grundschule an immer wieder Misserfolge aufgebaut, die dann in der Summe irgendwann zu einer Ablehnung führen. Einer meiner aktuellen Teilnehmer hat anderthalb Jahre nicht mehr sein Zimmer verlassen.“
„Hauptsache, er ist weg“
Auch Gutermann hat die Erfahrung gemacht, dass an Schulen nicht gerne über das Thema gesprochen wird: „Natürlich ist das so. Oft geht es ja auch um Schülerzahlen. Da werden viele Problemfälle irgendwie durchgedrückt. Früher war das so: Den bringen wir durch, Hauptsache, er ist irgendwann weg.“
Mittlerweile habe sie sich aber über acht Jahre ein gutes Netzwerk in Lindau aufgebaut. Das sei ein langer Prozess gewesen. „Ich habe an jeder Hauptschule einen Jugendberufshelfer der die Schulen unterstützt, und die wissen über meine Gripswerkstatt Bescheid“, erklärt Anja Gutermann.
Das Problem mit Schulverweigerern habe aus ihrer Sicht dennoch zugenommen: „Ich habe schon das Gefühl, dass diese ganzen psychischen Erkrankungen zugenommen haben und die Jugendlichen von heute dadurch viel problembehafteter sind.“Das Schulsystem halte diese Leute einfach nicht mehr aus, so Gutermann weiter.
Das möchte sie aber nicht als Vorwurf verstanden wissen, denn klar sei: „Die Schulen sind für solche Problemfälle nicht ausgelegt. Die Lehrerausbildung sieht so etwas auch einfach nicht vor. Die sind ja aufs Unterrichten geschult und nicht therapeutisch.“