Retter aus dem Urlauer Tann
Wie sich in der Heeresmunitionsanstalt Urlau das Schicksal der Region entschied
LEUTKIRCH - Die Bauarbeiten im Urlauer Tann sind in vollem Gange. Erlebnisbad, Spielplätze und 1000 Ferienhäuser entstehen hier bis Ende 2018. Dann will Center Parcs eröffnen. Ein Projekt, das die Zukunft der gesamten Region positiv beeinflussen soll – so die Erwartungen. Schon einmal in der Geschichte entschied sich die Zukunft Leutkirchs in dem militärischen Sperrbereich. Die Ereignisse am Ende des Zweiten Weltkrieges hätten beinahe zur Vernichtung der Stadt geführt.
Drohnenflug über den Urlauer Tann. Bilder des sieben Kilometer langen Zaunes rund um das ehemalige militärische Sperrgebiet, der grünen Baumwipfel und von Ruinen aus Beton. Das Videomaterial der Drohne flimmert über einen Bildschirm im Museum im Bock in der Dauerausstellung zur Muna Urlau.
Munitiondepot als Spielplatz
„Für uns war das als Kinder ein großer Spielplatz“, erinnert sich Gebhard Blank und zeigt mit dem Finger auf den Fernseher. „Wenn ich mich so zurückerinnere, wundere ich mich, dass da nichts passiert ist“. Denn zu den Spielsachen der Kinder gehörte in der Zeit zwischen dem Abzug der französischen Truppen nach dem Zweiten Weltkrieg und vor Übernahme der Bundeswehr unter anderem alte Munition. Nur ein Förster passte damals auf das verwaiste Waldareal auf. „Vor dem mussten wir uns immer verstecken“, erinnert sich Blank heute.
Auch Jahrzehnte später übt die „Heeresmunitionsanstalt“im Urlauer Tann eine große Faszination auf den Lokalhistoriker aus. Gemeinsam mit Bettina Kahl und Matthias Hufschmid veröffentlichte er 2007 ein aufwendig recherchiertes Buch zur fast 70-jährigen militärischen Nutzung des Areals.
Jetzt steht er inmitten der Dauerausstellung im Museum im Bock. Gemeinsam mit Wolfgang Wiesner – dem letzten Bundeswehrkommandanten der Muna – fachsimpelt er über die ausgestellten Granatenteile.
Die Geschichte der Muna beginnt 1939. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs steigt der Bedarf an Munition und Lagerorten. Die bewaldeten Hügel zwischen Leutkirch und Isny werden zum Areal der Wehrmacht – und eine von 192 Munitionsanstalten. „Der Urlauer Tann hat sich deshalb angeboten, weil etwa 20 Hektar ohnehin schon Staatswald waren“, sagt Blank.
Der Rest sei laut dem Lokalhistoriker von mehr als 80 Privatleuten enteignet worden. Es entstehen rund einhundert Gebäude: darunter Bunker für die Lagerung von Schwermunition und Produktionshallen zum Zusammensetzen der Sprengkörper. Die Einzelteile liefern Fabriken an, in der Muna machen meist Frauen die Geschosse sprengfertig – die Landesschützenkompanie Ulm überwacht die Arbeit.
„Eine große Bedeutung kommt der Muna Urlau aber erst gegen Ende des Kriegs zu“, so Blank. Ab 1944 wird sogenannte Kampfstoffmunition in Urlau eingelagert – darunter die Nervengifte Tabun und Sarin. „Das war eine Geheimwaffe und in der Muna konzentriert gelagert, obwohl die eigentlich gar nicht für solche Kampfstoffe geeignet gewesen ist“, sagt Blank. Von 15 000 Tonnen geht der Historiker aus. Genaue Zahlen gibt es nicht. Nur: Als die Franzosen die Anlage 1945 in Besitz nehmen, dokumentieren sie die Entsorgung von acht Tonnen Kampfstoffen und 10 000 Tonnen herkömmlicher Munition.
Zu dem Zeitpunkt hatte die Wehrmacht aus Angst vor den vorrückenden Alliierten einen Großteil bereits in der Ostsee versenkt. „Ich war immer wieder überrascht, dass die Menschen gar nicht wussten, welche Gefahr im Urlauer Tann lagert“, so Blank. Nur eine einzige Fliegerbombe auf das Munitionslager hätte wohl verheerende Folgen für die gesamte Region gehabt. Eine schlummernde Gefahr, die 1945 besonders akut wird. Allerdings nicht durch Feindbeschuss, sondern durch die Befehle der Nationalsozialisten.
Strategie der verbrannten Erde
„In ihrer Untergangsfantasie wollten sie verbrannte Erde hinterlassen“, kommentiert Blank. Im Februar 1945 wird die Vernichtung der Kampfstoffe angeordnet – mittels Sprengung der Muna Urlau. Ein folgenreicher Befehl, der den Tod unzähliger Zivilisten zur Folge gehabt hätte.
Kommandant der Heeresmunitionsanstalt Günther Zöller weiß um die fatalen Folgen des Befehls – und um die heranrückenden Französischen Truppen. Immer wieder verschiebt er die angeordnete Sprengung. An die Bevölkerung im näheren Umkreis werden bereits Gasmasken verteilt. Doch ein ums andere Mal findet Zöller eine Ausrede, um den großen Knall zu verhindern. Er will Zeit schinden. Das gelingt ihm.
Am 28. April übernehmen die französischen Truppen die Muna. Damit verhindert Zöller die Sprengung und rettet Tausende Menschenleben. Unvergessen ist diese Entscheidung bis heute. Seit April 2009 steht am Eingang des früheren Munageländes in Urlau eine Stele, die das mutige Handeln von Major Günther Zöller in den letzten Kriegstagen ehrt.
Kampfmittel sind beseitigt
Heute erinnert nicht mehr viel an die militärische Nutzung des Geländes. Abgesehen von zwei Bunkern, in denen Fledermäuse leben, wurden alle Gebäude abgetragen. Kampfmittel sind beseitigt worden, die ersten Bodenplatten der geplanten Ferienhäuser des Center Parcs sind bereits sichtbar.
Nach der für Ende 2018 geplanten Eröffnung des Ferienparks werden hier ziemlich sicher auch wieder Kinder auf dem Gelände spielen – so wie Gehard Blank damals. Nur dann eher auf Spielplätzen als mit herumliegender Munition.