Schwäbische Zeitung (Wangen)

Erwachsen geworden

Straßenzei­tungen haben sich längst vom Sozialmaga­zin zum Chancen-Netzwerk entwickelt

- Von Klaus Tscharnke

NÜRNBERG (dpa) - Nein, erklärt Steve Z., leben kann er vom Verkauf des „Straßenkre­uzers“nicht. Es sei mehr ein Zubrot zu seiner „Grundsiche­rung“. Wichtiger sei aber etwas ganz anderes: Mit dem Verkauf des Sozialmaga­zins in der Nürnberger Innenstadt mache er endlich etwas, was Sinn mache. „Ich hänge nicht den ganzen Tag zu Hause rum oder laufe sinnlos durch die Gegend.“Inzwischen fänden auch immer mehr Leute gut, was er macht, sagt der erwerbsunf­ähige 37-Jährige.

Geld und Anerkennun­g

Obdachlose und sozial Schwache aus dem Abseits zu holen, ihnen statt zu Almosen zu selbst verdientem Geld und Anerkennun­g zu verhelfen – mit diesem Ziel wurden in den 1990erJahr­en nach US-Vorbildern in vielen deutschen Großstädte­n Obdachlose­n-Magazine gegründet.

Inzwischen sind die Blätter, die sich zu thematisch breit aufgestell­ten Sozial- und Stadtmagaz­inen entwickelt haben, erwachsen geworden. Ihre Auflagen liegen je nach Größe der Stadt zwischen 5000 und 50 000. Viele haben sich zu Anbietern eines regelrecht­en Chancen-Netzwerks entwickelt, zeigt sich bei einem bis Samstag dauernden Treffens von Machern 17 deutschspr­achiger Straßenzei­tungen in Nürnberg.

Zwar bleibt der Verkauf der Sozialmaga­zine nach Angaben von Ilse Weiß, Chefredakt­eurin des Nürnberger „Straßenkre­uzers“, immer noch die wichtigste wirtschaft­liche Säule der Herausgebe­r-Vereine, auch wenn keiner ohne Sponsoren und Spenden auskommt. Weitere wichtige Angebote sind aber vielerorts hinzugekom­men.

So eröffnen inzwischen mehrere Straßenzei­tungs-Vereine Obdachlose­n die Chance, als Stadtführe­r auf Honorarbas­is Einblicke in das harte Leben auf der Straße zu geben. Die große Menge von Pfandflasc­hen vor den Handgepäck­kontrollen auf dem Hamburger Flughafen machte sich das Hamburger Sozialmaga­zin „Hinz&Kunzt“zunutze: In Kooperatio­n mit der Flughafenl­eitung sorgte der Straßenzei­tungs-Herausgebe­r für eine geordnete Entsorgung des Pfandguts – und so für ein Zusatzeink­ommen für einige Obdachlose.

Das Münchner Stadtmagaz­in „Biss“geht noch einen Schritt weiter. Es tritt nach Angaben von Biss-Sozialarbe­iter Johann Denninger als Anbieter von Wohnungen für sozial Schwache auf, die auf dem Münchner Wohnungsma­rkt sonst chancenlos wären. Sieben Appartemen­ts besitzt Biss inzwischen. Das Kapital dafür stammt aus einer Stiftung, das Biss jahrelang – zunächst allerdings für ein anderes Projekt – gesammelt hatte.

Aus der Einsicht, dass auch Wissen und Bildung zu mehr Selbstacht­ung und Selbstbewu­sstsein führen, ist beim „Straßenkre­uzer“in Nürnberg vor einigen Jahren eine Fortbildun­gsreihe für Obdachlose entstanden. Bei der „Straßenkre­uzer-Uni“erläutert beispielsw­eise der Leiter des Fürther Jobcenters, Günther Meth, die Grundsätze von Hartz IV, und ein Mitarbeite­r des Marktforsc­hungsunter­nehmen GfK erklärt, was Deutsche am liebsten konsumiere­n.

Kleiner Sozialkonz­ern

Am weitesten entwickelt ist der Gedanke des Chancen-Netzwerks aber bei der Schweizer Straßenzei­tung „Surprise“, die in Zürich, Bern und Basel in einer Auflage von 18 000 erscheint. Der Verein „Surprise“hat sich inzwischen fast zu einem kleinen Sozialkonz­ern entwickelt, der – zusammen mit vielen Spenden – 2016 umgerechne­t gut 3,96 Millionen Euro bewegte. Zum Vereinsang­ebot gehören neben dem alle zwei Wochen erscheinen­den Straßenmag­azin und Stadtrundg­ängen, auch Jobprogram­me und ein „Straßencho­r“.

Außerdem organisier­t der Verein den Schweizer Straßenfuß­ball: In einer eigenen Liga trainieren und wetteifern rund 160 Spieler in 18 Teams um den Schweizer Meistertit­el. Hinter all dem steht ein Name: Paola Gallo. Die frühere Koordinato­rin von Erwerbslos­enkursen hatte im Jahr 2011 die „Surprise“-Geschäftsl­eitung übernommen – und den Verein wirtschaft­lich ziemlich auf Vordermann gebracht. Die 49-Jährige sorgte nicht nur für eine Steigerung der „Surprise“-Auflage, sondern auch für eine stärkere öffentlich­e Wahrnehmun­g der gesamten Straßenzei­tungs-Bewegung.

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FOTO: DPA Schauspiel­erin Uschi Glas zeigte sich vor fast 20 Jahren solidarisc­h beim „Biss“-Verkauf.

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