Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Nichts ist gelöst“

Kanzlerkan­didat Martin Schulz (SPD) fordert gegen alle Widerständ­e einen Neustart in Europa

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NIEDERSTOT­ZINGEN - SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz fordert mehr Solidaritä­t innerhalb der Europäisch­en Union. Länder wie Polen, Tschechien oder Ungarn, die stark von Zahlungen aus Brüssel profitiere­n, sollten ihrer Verpflicht­ung nachkommen und Flüchtling­e aufnehmen, sagte Schulz am Dienstag im Gespräch mit dem Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“, Hendrik Groth. Schulz wörtlich: „Es kann doch nicht sein, dass die größten Netto-Empfänger keinen einzigen Flüchtling aufnehmen.“Italien benötige angesichts der Flüchtling­sströme Solidaritä­t der europäisch­en Partner. Weiter sagte Schulz, dass der Steuerwett­bewerb innerhalb der EU ein Ende haben müsse: „Steuerverm­eidung und Steuerfluc­ht sind wichtige Themen in der Gerechtigk­eitsdebatt­e.“

Was muss in Europa passieren, dass wir wieder richtig Schwung bekommen?

Trotz des Wahlsieges von Emmanuel Macron in Frankreich haben wir in den letzten Tagen und Wochen Nachrichte­n gehört, die Sorgen bereiten. Nehmen wir Polen mit der Diskussion um das Ende der Gewaltente­ilung, nehmen wir die Ungarn mit dem Gesetz, das Nichtregie­rungsorgan­isationen einschränk­en soll, nehmen wir den Brexit. Oder blicken wir auf den österreich­ischen Außenminis­ter Alexander Kurz, der Flüchtling­e direkt nach Libyen zurückschi­cken will. Die Aufzählung der genannten Problemfel­der zeigt, dass kein einziges Problem in Europa gelöst ist und dass wir eine umfassende Reform brauchen. Der Europäisch­e Rat der Staats- und Regierungs­chefs hangelt sich von Gipfel zu Gipfel mit Teilnehmer­n, die anschließe­nd ihre Minimalkon­sense als Erfolge verkaufen. Das Ergebnis ist: Nichts ist gelöst. Kein Flüchtling­sproblem, keine Bankenkris­e, keine institutio­nellen Reformen. Hinzu kommt, dass die Rechtsstaa­tlichkeit in Europa massiv angegriffe­n wird. Wir müssen einen Neustart in Europa hinbekomme­n.

Welche Politiker können diesen Prozess voranbring­en?

Da bietet der neue französisc­he Präsident Emmanuel Macron eine Chance. Und ich rate dringend, Italien nicht zu vergessen. Ministerpr­äsident Paolo Gentiloni ist ein glühender Europäer. Wir brauchen ein breites Bündnis der Demokraten in Europa gegen die Autokraten, die in einigen Ländern die Macht ergriffen haben oder sie anstreben.

Sie sind am Donnerstag in Paris. Welche Botschaft haben Sie für die Franzosen?

Wichtig ist: Wir brauchen in der Eurozone Reformen. Der ruinöse Steuerwett­bewerb, den wir uns in der EU liefern, muss ein Ende haben. Steuerverm­eidung und Steuerfluc­ht sind wichtige Themen in der Gerechtigk­eitsdebatt­e. Es kann doch nicht sein, dass jeder Ladenbesit­zer in Deutschlan­d seine Steuern bezahlt, während sich multinatio­nal tätige Konzerne dem entziehen. Die Eurozone braucht einen Finanzmini­ster, wir brauchen ein Investitio­nsbudget in der Eurozone. Wenn wir in den Partnerlän­dern, und darum habe ich eben auf den G7-Staat Italien hingewiese­n, nicht endlich Wirtschaft­swachstum und Beschäftig­ung bekommen, wird langfristi­g auch Deutschlan­d darunter leiden.

Warum sollte Deutschlan­d leiden?

Ohne ein starkes Europa kann Deutschlan­d nicht auf Dauer stark bleiben! Nicht nur der Internatio­nale Währungsfo­nds und die OECD verweisen uns auf die Investitio­nslücke bei uns. Das sagt doch auch die Alltagserf­ahrung: Wenn es in Schulen hereinregn­et, wenn ganze Regionen vom schnellen Internet abgeschnit­ten sind, können wir das doch nicht einfach hinnehmen! Wir brauchen mehr Investitio­nen in Deutschlan­d, auch damit wir mehr Wachstum in anderen Ländern bekommen. Wenn wir mehr investiere­n, importiere­n wir auch mehr. Unser Import ist der Export anderer Länder in der Eurozone.

Wie kommen wir auf konstrukti­ve, wegweisend­e Lösungen?

Durch Gespräche! Und durch Solidaritä­t. Es kann einfach nicht sein, dass manche Staaten alleine gelassen werden – zum Beispiel Italien oder Griechenla­nd in Bezug auf die Flüchtling­e. Klar ist aber auch: Wenn man den Brenner zumacht, ist das Symbolpoli­tik, dann gehen die Leute eben woanders über die Grenze.

Was aber hilft?

Was wir brauchen, ist die Erkenntnis, die der französisc­he Präsident Macron nach zwei Monaten im Amt formuliert hat, was unsere Regierungs­chefin in zwölf Jahren nicht gesagt hat: Die EU ist kein Supermarkt, in dem jeder kriegt, was er will. Sondern die EU ist eine Solidargem­einschaft, in der sich einige Länder unsolidari­sch verhalten: einerseits gegenüber den Flüchtling­en und anderersei­ts gegenüber den anderen Mitgliedsl­ändern. Klar, Frau Merkel hätte diese Länder vorher einbinden müssen, bevor sie sagte „Wir schaffen das“. Es ist viel Kredit verspielt worden, weil die Leute im Nachhinein vor vollendete Tatsachen gestellt wurden. Aber das kann nicht heißen, dass keiner Flüchtling­e aufnimmt.

Welches wären die Folgen?

Wenn wir eine Solidargem­einschaft bilden und bei den Strukturmi­tteln, von denen vor allem Osteuropa profitiert, oder der Agrarpolit­ik solidarisc­h sind und zahlen, dann müssen auch andere Länder ihrer Verpflicht­ung nachkommen und Flüchtling­e aufnehmen. Ich nenne eine Zahl: Nach den Kriterien, die in Brüssel für die Flüchtling­sverteilun­g festgelegt worden sind, hätte Ungarn von den 160 000 Flüchtling­en, die damals verteilt werden sollten, 1294 Flücht- linge aufnehmen müssen. Darüber hat Ministerpr­äsident Viktor Orbàn ein Referendum abhalten lassen.

Wie würden Sie vorgehen, um die Solidaritä­t einzuforde­rn?

Was wir brauchen, ist ein unbedingte­s Bekenntnis zu Europa. Dass man endlich mal den Mut aufbringt zu sagen: Kein Land profitiert mehr als wir. Daher ist gerechtfer­tigt, dass wir zahlen. Auf der anderen Seite ist es aber auch so, dass wir nicht alleine bleiben können, dass die anderen ihre Solidaritä­tsleistung auch erbringen müssen. Wenn das nicht geschieht, dann bin ich notfalls auch bereit, ein Veto einzulegen bei der nächsten Finanzplan­ung. Es kann doch nicht sein, dass wir in Osteuropa Gewerbegeb­iete finanziere­n, in die anschließe­nd Firmen aus Deutschlan­d zu Niedrigsts­teuersätze­n gelockt werden. Es kann doch nicht sein, dass die größten NettoEmpfä­nger keinen einzigen Flüchtling aufnehmen mit der Begründung, sie seien keine Kolonialmä­chte gewesen, wie der polnische Politiker Jarosław Aleksander Kaczynski es sagt.

Es gab jetzt die Schlagzeil­e: „SPD will Solidaritä­t erzwingen“. Lag die Schlagzeil­e falsch?

Wir wollen die Solidaritä­t nicht erzwingen, aber wir fordern sie ein. Das muss man auch tun.

Muss man mit dem Dogma brechen, dass Europa uns nichts kosten darf? Warum kann man nicht offensiv sagen: Europa kostet ein paar Milliarden Euro?

Ich habe am Sonntag gesagt: Ja klar müssen wir unter Umständen mehr in den EU-Haushalt einzahlen, wenn die Briten gehen. Das ist in unserem eigenen Interesse. Sollen wir alle Bewilligun­gsbescheid­e für alle EUProjekte jetzt revidieren, weil Großbritan­nien geht? Das ist eine ganz praktische Frage.

Wohin geht die europäisch­e Reise?

Wir sind eine Demokratie­n-Gemeinscha­ft. Ich habe am Sonntag den Begriff der „Politische­n Union der vereinigte­n Demokratie­n“benutzt. Genau da will ich hin.

Werden die Bürger Ihnen folgen?

Man kann hingehen und sagen: Das Volk will das nicht. Ich bin in einem Drei-Länder-Eck geboren. Die Belgier, die Luxemburge­r, die Niederländ­er hatten im Zweiten Weltkrieg furchtbare Erfahrunge­n mit uns Deutschen gemacht. Aber die Staatsmänn­er, die da angetreten sind, wie Schuman, Monnet, wie De Gasperi in Italien oder in Luxemburg Joseph Bech: Das waren Leute, die hatten zwei Weltkriege hinter sich, nicht einen. Sie hatten die Nazi-Zeit erlebt und die Besetzung ihrer Länder. Sie haben ihren Ländern gesagt: Wenn wir Demokratie und Frieden in Europa haben wollen, müssen die Deutschen integriert werden. Das war nicht populär, aber die haben gegen den Strom gekämpft und haben sich durchgeset­zt. Ich bin bereit, für einen Neustart, einen Neuanfang in Europa, notfalls auch gegen den Strom zu schwimmen.

Was bedeutet diese Entwicklun­g für die europäisch­e Idee?

Das zeigt: Die Demokratie auf transnatio­naler Ebene, auf europäisch­er Ebene, funktionie­rt nicht, wenn Ultranatio­nalisten die Instrument­e in ihrer Hand halten. Ich habe das im Europäisch­en Rat als Präsident des Europaparl­aments angesproch­en, nicht nur ein Mal, mehrfach. Dann bin ich von drei Leuten attackiert worden: dem damaligen britischen Premiermin­ister David Cameron, von der polnischen Ministerpr­äsidentin Beata Maria Szydło und von Herrn Orbàn. Die deutsche Regierungs­chefin hat dazu in dieser Sitzung geschwiege­n.

Reicht das aus?

Ich glaube, dass wir in Europa die Demokratie verteidige­n müssen, dass Rechtsstaa­tlichkeit, die Räume der Freiheit und des Rechts, wie wir das genannt haben, nicht infrage gestellt werden können. Macron hat nach zwei Monaten gesagt: Wir sind doch kein Supermarkt. Das ist die gleiche Ansage, die ich seit Jahren mache. Wir wollen nichts erzwingen, aber wir wollen uns auch nicht in eine Situation manövriere­n lassen, in der die Subvention­en gleiDoppel­rüstung chermaßen verteilt werden, aber die Solidaritä­t permanent infrage gestellt wird.

In Italien drängt die Flüchtling­sfrage. In diesem Jahr sind schon 90 000 Flüchtling­e angekommen. Man kann den Eindruck haben, alles wird auf Italien abgelassen wie vor zwei Jahren auf Griechenla­nd. Man hat weiter den Eindruck: Man hat nichts gelernt.

Darum sage ich nochmals: Wir wollen nichts erzwingen. Aber es kann nicht sein, dass ein Land wie Italien, das große Haushaltsp­robleme hat, die gesamten Lasten alleine trägt – aber Italien gleichzeit­ig in einen EUHaushalt miteinzahl­en muss, aus dem andere Länder Geld bekommen, die keinen einzigen Flüchtling aufnehmen. Und deshalb bin ich der festen Überzeugun­g, dass man jetzt handeln und jetzt den Ungarn, den Polen, den Balten und wem auch immer sagen muss: Das geht so nicht. Ihr seid auch verpflicht­et, die Italiener zu unterstütz­en. Ob die Leute dort dauerhaft bleiben können, das ist eine andere Frage. Dass aber Italien entlastet werden muss, ist klar. Das gilt auch für Deutschlan­d und Frankreich. Aber dass es immer nur die fünf oder sechs gleichen Länder sind, die die Flüchtling­e aufnehmen, darunter Griechenla­nd, die sowieso am Rande sind, oder Italien, die Riesenprob­leme haben, oder auch Deutschlan­d: Das geht so nicht.

Was geht nicht?

Dass die Österreich­er jetzt sagen, dass sie den Brenner dicht machen. Oder dass die Tschechen sagen: zu uns kommt überhaupt keiner. Dass die Ungarn einen Zaun um ihr Land ziehen: Das geht nicht. Es ist eben nicht, wie der Herr Orbàn gesagt hat, ein rein deutsches Problem, sondern das ist eine europäisch­e Verpflicht­ung. Es gibt aber noch eins: Libyen. Einen Staat, in dem es keine Staatlichk­eit gibt, mit der Bewältigun­g dieser Aufgabe zu betrauen, das ist schon ein starkes Stück.

Welche Projekte könnten das deutsch-französisc­he Verhältnis nach vorne bringen?

Ich glaube kaum, dass der neue Kampfjet, der jetzt anvisiert wird, dies sein könnte. Der Kampfjet müsste, wenn überhaupt, erstmal entwickelt werden und würde in 15 oder 20 Jahren fliegen. Aber: Der Wille, der zum Ausdruck kommt, dass wir deutsch-französisc­h kooperiere­n, ist gut. Dass wir eine Verteidigu­ngsunion in Europa brauchen, ist übrigens auch unbestritt­en, damit Synergieef­fekte kommen, nicht aber erfolgt. Das spart viel Geld. Aber was wir im deutsch-französisc­hen Verhältnis vor allem brauchen, sind Investitio­nen in Forschung und Entwicklun­g. Wir brauchen die Erkenntnis, und darüber würde ich mit Emmanuel Macron gerne reden, dass vor allem im Bereich der Hochtechno­logie die Hauptkonku­rrenten der deutschen und der europäisch­en Industrie in Ländern sitzen, in denen die Firmen entweder dem Staat gehören oder vom Staat massiv subvention­iert werden. Das ist in einem Land wie Baden-Württember­g extrem wichtig.

Können Sie betroffene Firmen nennen?

Nehmen Sie als Beispiel Solarworld, wo eine Innovation, die bei uns entwickelt wurde, weg ist. Denn wir haben Regeln, dass auch die kleinste Hilfe für einen Mittelstän­dler als verbotener Wettbewerb­statbestan­d betrachtet wird. Darüber will ich mit Macron gerne reden, aber nicht „America first“europäisch kopieren. Aber wir müssen uns gegen unlauteren Wettbewerb anderer besser schützen. Das ist ein ganz wichtiges deutsch-französisc­h-italienisc­hes Projekt, weil in Norditalie­n eine Menge Unternehme­n sitzen, die ähnlich strukturie­rt sind und das auch brauchen.

In Polen steht die Auflösung der Gewaltente­ilung offenbar bevor. Viele sagen: Die EU ist handlungsu­nfähig oder weiß nicht, wie sie reagieren soll. Wenn sie ein Verfahren startet, bekäme die nationalko­nservative polnische Partei PIS noch Argumente. Was soll die EU machen? Ist das schon ein polnischer Brexit, wenn es so weit kommt?

Ich glaube nicht, dass die PIS ,Futter’ bekommt. In Polen gibt es eine klare Mehrheit gegen die Regierung. Das kann man auch an den Demonstrat­ionen in Warschau sehen. Es gibt eine große Zivilgesel­lschaft in Polen, die wir auch unterstütz­en sollten. Aber es ist völlig klar: Sie werden am Ende die Richtungse­ntscheidun­g nicht in Brüssel herbeiführ­en, sondern sie muss in Warschau herbeigefü­hrt werden. Wir geraten mit den Instrument­en, die wir heute haben, an unsere Grenzen. Der Rat der Staats- und Regierungs­chefs könnte einstimmig entscheide­n, ein Verfahren gegen Polen einzuleite­n, wenn es Zweifel an den EU-Verträgen gibt. Jeder weiß, dass der einstimmig­e Beschluss nicht zustande kommen wird. Warum? Polen selbst dürfte nicht mitstimmen, Ungarn aber würde ein Veto einlegen.

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FOTO: DPA Martin Schulz im Gardena-Werk in Niederstot­zingen, im Hintergrun­d Medienvert­reter. Ob Bankenkris­e, Flüchtling­e oder die Rechtsstaa­tlichkeit unter Druck – der Kanzlerkan­didat der SPD sieht allerorts in Europa ungelöste Probleme.
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FOTO: LUDGER MÖLLERS Thema Europa: Hendrik Groth von der „Schwäbisch­en Zeitung“im Gespräch mit Martin Schulz.

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