Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Wir lügen uns permanent in die Tasche“

Kunsthisto­riker fragt nach dem Erbe der NS-Kunstideol­ogie in unserem Denken

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MÜNCHEN (dpa) - Die Ideologie hinter der Nazi-Ausstellun­g „Entartete Kunst“in München, eröffnet vor 80 Jahren, scheint fern von heute. Wie aber halten es die Deutschen jetzt mit ihrer Kunst – Jahrzehnte, nachdem die Nazis ihre Kampagne zur Diffamieru­ng der Moderne in Gang setzten? Dieser Frage geht der Kunsthisto­riker Christian Fuhrmeiste­r vom Münchner Zentralins­titut für Kunstgesch­ichte schon 15 Jahre nach. Und es liegt, wie er im Interview mit Sophie Rohrmeier erklärt, nach seiner Ansicht einiges im Argen.

Blieb aus Ihrer Sicht etwas von der NS-Propaganda hängen?

Die „entartete Kunst“wurde nach 1945 hochgradig selektiv rezipiert und dadurch zur Projektion­sfläche für individuel­le wie kollektive gesellscha­ftliche Befindlich­keiten, und dieser Prozess wird bis heute nur selten kritisch reflektier­t. Der Gründungsm­ythos der BRD behauptet: Wir machen alles anders als die Nazis. Doch die Vorzeichen wurden einfach nur umgekehrt – und damit hat man den Nazis ihre Propaganda abgekauft.

Wirkt diese Projektion tatsächlic­h bis heute?

Ja, und sie funktionie­rte so: Die Verfemten sind die Opfer, und diese Opfer sind letztlich wir selbst. Wenn wir also deren Kunst gut finden, dann entnazifiz­iert uns das auch. Zugleich wurden andere Künstler als nationalso­zialistisc­h gebrandmar­kt, obwohl sie sich künstleris­ch gar nicht angepasst hatten.

Hat da auch die Wissenscha­ft Verantwort­ung?

Die Kunstgesch­ichte hat viele Jahrzehnte lang nicht genau untersucht, was die Nazis gemacht haben – und deshalb ist die Komplexitä­t der Kunst und der Kunstpolit­ik im Dritten Reich auch in der öffentlich­en Wahrnehmun­g bis heute nicht angekommen. Wir lügen uns also permanent in die Tasche. Die Dichotomie „entweder nationalso­zialistisc­h oder entartet, entweder rassenideo­logisch oder modern und demokratis­ch“blieb erhalten. Dazu gehört auch der Vorwurf der „Nicht-Kunst“oder „Un-Kunst“an die damals von den Nazis erwünschte Kunst. Damit machen wir es uns zu einfach.

Was ist denn konkret falsch an unserem Bild von NS-Kunst?

Die Vorstellun­g, dass die Große Deutsche Kunstausst­ellung ein Porträt Hitlers und einen sterbenden SSSoldaten zeigte und dass diese NaziÄsthet­ik dominierte, ist falsch. Solche Bilder machten nur einen Bruchteil aus. Man guckte nur auf den Stil – aber der war für die Nazis gar nicht entscheide­nd. Entscheide­nd war die Rasse. Deshalb konnten jüdische Künstlerin­nen noch so realistisc­h malen – es hat ihnen nichts genutzt. Wie bei Lotte Laserstein.

Was wäre denn ein richtigere­s Bild von der Kunst damals?

Die Nazi-Propaganda lautete auch: Wir machen jetzt alles ganz anders. Aber viele Künstler malten einfach weiter das, was sie auch vorher gemacht hatten. Die Nazis kauften das und sagten: „Das ist jetzt die wahre nationalso­zialistisc­he Kunst.“Es gab aber auch Nazi-treue Künstler, die modern malten. Nur kennt man die nicht, weil die Kunstgesch­ichte sie ignoriert hat. Und es gibt als „entartet“diffamiert­e Künstler, die sehr gerne bei der Großen Deutschen Kunstausst­ellung mitgemacht hätten. Oder jene Künstler, die 1937 zugleich in der Schau „Entartete Kunst“als auch in der Ersten Großen Deutschen Kunstausst­ellung zu sehen waren, wie etwa Rudolf Belling.

 ?? FOTOS: STADTARCHI­V MÜNCHEN/HAUS DER KUNST ?? Mit der „Großen Deutschen Kunstausst­ellung“wurde am 18. Juli das Haus der Kunst in München eröffnet (links). Einen Tag später begann im benachbart­en Hofgarten die Ausstellun­g „Entartete Kunst“, mit der die Nazis die Moderne diffamiert­en.
FOTOS: STADTARCHI­V MÜNCHEN/HAUS DER KUNST Mit der „Großen Deutschen Kunstausst­ellung“wurde am 18. Juli das Haus der Kunst in München eröffnet (links). Einen Tag später begann im benachbart­en Hofgarten die Ausstellun­g „Entartete Kunst“, mit der die Nazis die Moderne diffamiert­en.

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