Schwäbische Zeitung (Wangen)

Bundesregi­erung verliert die Geduld

Verhaftung deutscher Menschenre­chtler in der Türkei belastet die Beziehunge­n weiter

- Von Susanne Güsten

ISTANBUL - Eine sprachwiss­enschaftli­che Karte Asiens und Unterstütz­ung für Hungerstre­ikende: Die Begründung für die Haftbefehl­e gegen den deutschen Menschenre­chtler Peter Steudtner und fünf Kollegen in Istanbul ist für die deutsche Bundesregi­erung dünn. So dünn, dass sie nun ihre Geduld mit Ankara verliert.

Bundesauße­nminister Sigmar Gabriel (SPD) hat seinen Urlaub abgebroche­n, um über Gegenmaßna­hmen zu beraten, und bestellte am Mittwoch den türkischen Botschafte­r in Berlin ins Auswärtige Amt ein. Eine rasche Lösung im Gespräch mit der türkischen Regierung ist jedoch nicht zu erwarten: Im Rahmen einer Kabinettsu­mbildung tritt in Ankara der neue Justizmini­ster Abdülhamit Gül sein Amt an. Er wird sich zuerst einmal einarbeite­n müssen.

Türkei spricht von „Staatsstre­ich“

Die sechs Aktivisten sitzen wegen Unterstütz­ung für eine Terrororga­nisation in Haft – doch welche das sein soll, können weder Staatsanwa­lt noch Richter sagen, wie Regierungs­gegner in der Türkei kritisiere­n. Die Chancen auf Freilassun­g der insgesamt zehn Menschenre­chtler, die Anfang Juli bei einem Seminar auf der Insel Büyükada bei Istanbul von der Polizei festgenomm­en worden waren, standen spätestens nach einer Äußerung von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan schlecht. Erdogan hatte beim G20-Gipfel in Hamburg gesagt, die Gruppe habe einen neuen Staatsstre­ich vorbereite­n wollen.

Für die Staatsanwa­ltschaft steht fest, dass die Beschuldig­ten das Land „ins Chaos“stürzen wollten. Bei dem Seminar auf Büyükada ging es unter anderem darum, wie Menschenre­chtler mit dem Druck der Behörden umgehen können. Allein darin sieht die türkische Justiz einen Hinweis auf staatsfein­dliche Umtriebe. Die Veranstalt­ung sei nicht öffentlich angekündig­t worden, sagt die Anklagebeh­örde.

Dass regierungs­unabhängig­e Gruppen den Behörden nicht über jeden Schritt Rechenscha­ft schuldig sind, gilt theoretisc­h zwar auch in der Türkei. Praktisch aber kann jeder Workshop zum Agententre­ffen umgedeutet werden. Ein Gericht in Istanbul steckte sechs Seminar-Teilen in Untersuchu­ngshaft und ließ vier weitere unter Auflagen frei. Bis zu einem Prozess können Monate vergehen.

Am Mittwoch wurde eine weitere prominente türkische Menschenre­chtlerin festgenomm­en. Der zusammen mit Steudtner verhaftete­n Türkei-Direktorin von Amnesty Internatio­nal, Idil Eser, wird unter anderem vorgeworfe­n, dass sie sich mit dem Hungerstre­ik von zwei entlassene­n Akademiker­n befasst habe. Auch das ist nicht illegal.

Bei anderen erweckte eine etymologis­che Karte Asiens den Verdacht, im Nahen Osten sollten Grenzen verändert werden. Erdogan-nahe Zeitungen sind sicher, dass die Konferenz auf Büyükada von amerikanis­chen und britischen Geheimdien­sten gesteuert wurde. So werden Verschwöru­ngstheorie­n im EU-Bewerberla­nd Türkei zur Grundlage von Haftbefehl­en. Internatio­nale Reaktionen darauf bestärken ErdoganAnh­änger nur in ihrer Sicht der Dinge. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) sei mit ihrer Kritik an den Verhaftung­en „den Agenten zur Hilfe geeilt“, hieß es in der regierungs­nahen Zeitung „Star“am Mittwoch.

Laut einem Bericht der „Zeit“leitete Ankara eine Liste mit 68 Unternehme­n, die angeblich Terrorgrup­pen unterstütz­en, an die Bundesregi­erung in Berlin weiter. Auf der Liste stehen demnach unter anderem Daimler, BASF sowie eine Dönerbude in Nordrhein-Westfalen.

Für die Bundesregi­erung, die sich bisher den Vorwurf anhören musste, zu sanft mit der Erdogan-Regierung umzugehen, ist dies genug. Das Auswärtige Amt erklärte, dem türkischen Botschafte­r Ali Kemal Aydin sei „klipp und klar“deutlich gemacht worden, dass die Verhaftung­en inakzeptab­el seien. Dasselbe gelte für die Inhaftieru­ngen des deutsch-türkischen Korrespond­enten Deniz Yücel und der Ulmer Journalist­in Mesale Tolu, betonte das Ministeriu­m.

Die Bundesregi­erung plant nach Angaben von SPD-Chef Martin Schulz eine Verschärfu­ng der Reisehinwe­ise zum Schutz deutscher Staatsbürg­er in der Türkei. „Der Außenminis­ter wird sicher genau prüfen, welche diplomatis­chen Schritte notwendig sind“, sagte er am Mittwoch in Berlin. Die Zeit des Abwartens sei vorbei. Es liege nahe, dass dazu auch die Frage von Reisehinwe­isen geprüft und diese „dann ausgesproc­hen werden“. Er könne dem Außenminis­terium aber nicht vorgreifen, betonte Schulz.

In Ankara wird sich der neue Justizmini­ster Gül nun mit dem Streit um die Haftbefehl­e befassen müssen. Der 40-Jährige gehörte vor seinem Wechsel zu Erdogans Regierungs­partei AKP verschiede­nen islamistis­chen Parteien an.

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Türkischer Derwisch-Tanz um die Geduldsfäd­en.

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