Das Leben, ein Kreuzweg
Eine Rarität bei den Salzburger Festspielen: „Rose Bernd“von Gerhart Hauptmann auf der Perner-Insel in Hallein
SALZBURG - Eine Frau lehnt sich auf – und wird zerstört. Gerhart Hauptmanns „Rose Bernd“ist die Geschichte einer Kindsmörderin. Bei den Salzburger Festspielen inszeniert Karin Henkel die tragisch scheiternde Emanzipation der Rose Bernd mit einer sensationellen Hauptdarstellerin: Lina Beckmann spielt Rose, die schwanger ist von ihrem verheirateten Liebhaber, sich aber für stark genug hält, gegen die bigotte Gesellschaft ein eigenes Leben führen zu können. Ovationen für Beckmann und das Ensemble auf der Perner-Insel in Hallein.
Naturalistische Dramen sind heute eine Rarität auf den Spielplänen. Die Werke von Gerhart Hauptmann (1862–1946) kommen selten vor. Es ist ebenso verdienstvoll wie mutig von den Salzburger Festspielen, mit „Rose Bernd“ein ungewöhnliches und sperriges Stück ins Schauspielprogramm aufzunehmen. Denn der Nobelpreisträger charakterisiert wie später Ödön von Horváth seine Figuren durch den Dialekt. Je nach gesellschaftlicher Stellung sprechen sie mehr oder weniger stark ausgeprägt schlesisch. Das ist eine Herausforderung – für die Darsteller ebenso wie für das Publikum.
Der Kindsmord ist ein altes literarisches Motiv. Das Interesse der Neuzeit rührt daher, dass das aufgeklärte Publikum die Rechtsprechung als inhuman empfand. Goethes Gretchen-Figur beruht auf einem Fall von 1771 in Frankfurt, bei dem die Kindsmörderin zum Tode verurteilt wurde. Goethe ließ sich die Akten kommen. Im Unterschied zur Wirklichkeit wird Gretchen im „Faust“nicht hingerichtet. „Ist gerettet“, verkündet eine Stimme von oben. Gerhart Hauptmann war 1903 Schöffe in einem Prozess gegen eine Frau, die ihr Baby getötet hatte. Das Gericht sprach die Kindsmörderin frei. Aber dieses Urteil wurde wieder aufgehoben. Hauptmann diktierte unmittelbar nach dem Prozess einen ersten Entwurf für „Rose Bernd“.
Wenn das Publikum den dunklen Saal der alten Saline in Hallein betritt, steht die Hauptfigur schon auf der Bühne: Lina Beckmann, weiß geschminkt, trägt ein Kostüm mit buntem Kopfschmuck, das schlesische Trachten zitiert (Kostüme: Adriana Braga Peretzki). Volker Hintermeier hat ein großes Kreuz im Bühnenboden eingelassen und ein kleines vorne an den Rand gestellt. Das Leben, ein Kreuzweg. Rose Bernds Passion ist vorgezeichnet.
Belauscht und erpresst
Mit einem grotesk verzerrten Bühnenlachen beginnt das Stück, mit einer Ohnmacht endet es. Der Konflikt wird in den ersten Momenten skizziert: Rose und ihr Liebhaber, Bürgermeister Flamm (Markus John), hatten gerade Sex miteinander. Es ist Sonntag, gleich werden die Leute aus der Kirche vorbeikommen. Auch Roses frommer Vater (Michael Prelle) und ihr kränkelnder Bräutigam August (Maik Solbach). Doch einer ist schon da: der Maschinist Streckmann (Gregor Bloéb). Der brutale Kerl hat gelauscht und wird Rose erpressen.
Was aber nur Rose weiß: Sie ist schwanger. Ein lediges Kind? Undenkbar in dieser Zeit, in dieser Gesellschaft. Doch Rose träumt, hofft, glaubt, dass sie ihren Weg finden kann. „Ich wes, was ich will“, sagt sie zu Flamms Frau (Julia Wieninger). Die erkennt zwar, dass Rose ein Kind bekommt, aber nicht, dass ihr eigener Mann der Vater ist. Dabei hat Rose mit Flamm schon Schluss gemacht: „Was de geschehen is bereu ich nich, wenn ich o hab genug in der Stille mußt leiden. Aber s’muß eemal nu o sei Ende han – und ’s geht und geht nu nie asu weiter.“
Diese junge Frau weigert sich, einfach alles so mit sich geschehen zu lassen. Sie fühlt sich aus ihrer Lebenserfahrung heraus stark genug. Sie bekennt sich zu ihrem Verhältnis. Sie ist bereit, in Gottes Namen auch einen gutherzigen, aber unattraktiven Bräutigam zu heiraten. Am Ende aber tötet sie ihr Kind, um ihm ein Schicksal wie das ihre zu ersparen.
Gesellschaft infrage gestellt
Hauptmann gestattete seiner Figur nicht nur Selbstbewusstsein, er begegnete der Kindsmörderin auch mit Mitleid. Ein Skandal. Das Burgtheater musste 1904 alle Aufführungen absagen, nachdem die Tochter des Kaisers, Erzherzogin Marie Valerie, das Haus empört verlassen hatte. Offenbar hatte sie gespürt, wie dieser Einzelfall das System einer religiös begründeten, patriarchalischen Gesellschaft infrage stellt.
Die Unterdrückung der Frau gehört zu diesem Gesellschaftsmodell. Karin Henkel nimmt dies in ihrer Inszenierung auf. Ein Chor skandiert im dritten Akt wieder und wieder ein patriarchalisches Glaubensbekenntnis: „Die Frau wurde um des Mannes willen geschaffen. Sie ist ihm untertan.“Doch daraus wird nie ein plumpes, feministisches Programmstück.
Das ist vor allem auch das Verdienst von Lina Beckmann. Diese Schauspielerin, die im Fernsehen oft unter ihren Möglichkeiten besetzt wird, erweist sich hier als souveräne Charakterdarstellerin. Sie drückt nicht auf die Tränendrüse, sie macht nicht auf große Heroine. Sie zeichnet das Bild einer Frau, die verzweifelt kämpft um ihr Recht auf ein eigenes Leben. Das ist stark. Das ist berührend.