Schwäbische Zeitung (Wangen)

Auf dass wir klug werden

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Liebe Leserin, lieber Leser,

das ist kein Satz, um ihn beim Frühstück so nebenher zu lesen, kurz bevor man auf den Weihnachts­markt geht. Aber ich will diesen Beitrag dennoch damit beginnen: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“(Psalm 90,12) Denn dieser Vers steht als Motto über dem Sonntag morgen, dem letzten Sonntag im Kirchenjah­r, dem Totensonnt­ag.

In der evangelisc­hen Kirche erinnern wir noch einmal an alle, die im vergangene­n Jahr aus unserer Gemeinde verstorben sind. Jeder Name wird vorgelesen. Für jeden zünden wir ein Licht an. Viele, die in den letzten Wochen und Monaten einen Menschen verloren haben, werden kommen.

Dieser Gottesdien­st ist für mich immer etwas Besonderes. Ich weiß, dass die Erinnerung an den Tod noch einmal die Trauer weckt. Aber Trauer gehört dazu. Und wir sind ja nicht allein gelassen. Wir sind eingebette­t in eine Kirchengem­einde. Wir sind geborgen in Gottes Ewigkeit. Deshalb trägt der Sonntag morgen noch einen zweiten Namen: Ewigkeitss­onntag. Unser Leben ist mit dem Tod nicht zu Ende. Dietrich Bonhoeffer hat angesichts seines nahen Todes im Konzentrat­ionslager Flossenbür­g gesagt: „Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens.“Daran glauben wir als Christen.

Das ist unsere Hoffnung.

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“Wörtlich übersetzt: Lehre uns zählen unsere Tage, damit wir ein weises Herz erlangen!

Was bedeutet das? Für mich vor allem zweierlei.

Zunächst: Zählen wir unsere Tage. Unser Leben dauert ja nicht unendlich. Wenn wir uns dessen bewusst sind, leben wir intensiver. Wir können jeden Tag als besonderen Tag wahrnehmen, können über die Wunder und die Schönheit des Lebens mehr staunen. Und können gleichzeit­ig das Schwere im Leben gelassener tragen, weil wir wissen: Es dauert nicht unendlich.

Und dann: Ein weises Herz ist ein Herz, das liebt. Wenn wir voller Liebe an jemanden denken, auch an einen Verstorben­en, dann verändert sich unsere Haltung. Dann können wir verzeihen, dann müssen wir Kleinigkei­ten nicht so wichtig nehmen, dann brauchen wir nicht immer an erster Stelle zu stehen.

Wir werden klug, wenn wir bedenken, dass wir sterben müssen. Vielleicht tut es gut, einmal innezuhalt­en und darüber nachzudenk­en. Der Rummel des Weihnachts­marktes passt für mich nicht dazu. Die Adventszei­t beginnt erst nächsten Sonntag. Ich freue mich darauf und dann auch auf den Weihnachts­markt. Aber heute und morgen will ich angesichts der Menschen, die wir verloren haben – auch ich – darüber nachdenken: „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“

Martin Sauer ist Pfarrer an der Evangelisc­hen Stadtkirch­e in Wangen im Allgäu

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FOTO: MORLOK Pfarrer Martin Sauer

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