Mit dem Leichenschmaus stirbt auch das Wirtshaus aus
Der Totensonntag ist ein Tag des Gedenkens an Verstorbene. Doch der Blick durch trübe Fenster hinaus in neblige Tage im Zwielicht regt zu melancholischen Gedanken an, die nicht nur mit den Toten selbst zu tun haben, sondern auch mit anderen Dingen, die wir mit der Zeit zu verlieren drohen.
Im Zuge einer spürbar verarmenden Beerdigungskultur büßen ehemalige Institutionen wie das Totenmahl beziehungsweise der Leichenschmaus an Bedeutung ein. Dabei gehörten diese Rituale fest ins gemeinschaftliche Leben. Nicht nur, um sich von einem Menschen zu verabschieden, sondern vor allem, um sich seiner selbst und der Gesellschaft zu versichern.
Der Begriff von der „schönen Leich’“, die neben der eigentlichen Beerdigungszeremonie auch den kulinarischen Ausklang umfasst, ist beinahe verschwunden. Öffentliche Tränen waren früher kein Tabu. Ebenso wenig, dass es zu späterer Stunde sogar lustig hat zugehen dürfen. Mit jedem Schluck Bier oder Wein durften die Trauernden sich auch der Skurrilitäten eines verstorbenen Charakters erinnern, der ja auch nur ein Mensch war und demgemäß sein Leben lang nicht nur Bibelverse gesungen hat.
Viele Wirte, insbesondere jene, die ihr Geschäft nicht in einer traditionellen Dorfgemeinde betreiben, klagen schon lange, dass ihnen die Veranstaltungen fehlen, mit denen sie früher fest haben rechnen können: Taufen, Erstkommunion, Firmung, Konfirmation, Hochzeit und schließlich Beerdigung. Von Fasnetsbällen und sonstigen Tanzveranstaltungen ganz zu schweigen.
Schleichender Exitus
Der Wirtshaus-Exitus kommt oft schleichend: Zuerst werden aus einem Ruhetag zwei. Dann bleibt mittags zu. Und am Schluss offenbart sich, dass die paar Stunden am Abend einfach nicht ausreichen, um einen Betrieb oberhalb der roten Linie zu führen, die ein Gasthaus zwischen Gewinn und Verlust trennt. Warum das so ist, und ob es überhaupt schlimm ist – darüber diskutieren Menschen immer erst dann, wenn wieder einer dieser traditionellen Betriebe verschwindet. Das Internet sei schuld, das Fernsehen, das Handy. Im Prinzip alles, was uns daran hindert, unmittelbar und ungefiltert an einem gemeinsamen Tisch Zeit miteinander zu verbringen. Und am Wochenende, wenn uns das Internet, das Fernsehen oder das Handy ein kleines bisschen Zeit übrig lassen, wundern wir uns, wenn wir lange herumfahren müssen, um überhaupt noch eine anständige Wirtschaft zu finden.
Die Wahrheit ist: Wirtshäuser waren nie als Wochenendvergnügen gedacht, sondern als alltäglicher Lebensraum. Wo man zwischendurch ein Bier trinkt, seine Freunde trifft, eine Kleinigkeit isst, miteinander spricht, miteinander feiert, miteinander trauert. Gehört das Wirtshaus nicht mehr zum normalen Alltag, kann es kaum noch überleben. Und wenn das Gasthaus als Begegnungsraum fehlt, wo soll es dann stattfinden, das Totenmahl? Etwa irgendwo, wo der Verstorbene selbst nie war oder hingegangen wäre?
Eine „schöne Leich’“
Der Leichenschmaus für meine Oma dauerte bis gegen Mitternacht. Zuerst haben die Leute am Grab geweint, dann haben sie gegessen, getrunken, gelacht, gesungen und am Schluss wieder geweint.
Es war eine würdige Achterbahnfahrt menschlicher Seelenzustände.
Das Totenmahl fand in jenem Gasthof statt, in dem Oma schon zu Lebzeiten eine Menge Familienfeiern erlebt hat. Ein Ort, der etwas mit ihr zu tun hatte. Diese Wirtschaft gibt es schon lange nicht mehr. Ich bin froh, dass Oma das nicht erleben muss. Und ich bin dankbar für die Erinnerung an diese „schöne Leich’“.