Das Wiedersehen mit den Eltern steht bevor
Ein Brüderpaar aus Syrien, oder: Zwei Minderjährige unter Obhut der Leutkircher Stiftung St. Anna
LEUTKIRCH - Heiligabend ist vorbei. Und doch spricht Jochen Narr, der verantwortliche Leiter für die Wohngruppen der Leutkircher Stiftung St. Anna, von einem verspäteten Geschenk, das er am 30. Dezember als ein Beteiligter entgegennehmen darf. Narr wird mit den aus Aleppo in Syrien stammenden Brüdern Mohamad (jetzt 19 Jahre alt) und Abdu (jetzt 14) nach Stuttgart fahren und dort am Flughafen die Eltern der beiden in Deutschland begrüßen können. Endlich kommt die Familie zusammen – bis auf eine Ausnahme. Die 20-jährige Tochter der Familie, die deutschen Gesetze lassen eine Sonderregelung nicht zu, muss voerst noch bei Verwandten in der Türkei bleiben. Dort hatten zuletzt auch die Eltern der Brüder gelebt.
Aufnahme in Wohngruppe
„Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“(UMF), auch dieser Begriff hat in den vergangenen Jahren Einzug gehalten in die deutsche Bürokratie. Mohamad und Abdu fielen von Anfang an darunter, noch ehe sie Leutkirch erreicht hatten. Sie waren die ersten, die aber mit diesem „Titel“in der Allgäustadt ankamen. Als Jugendhilfeeinrichtung, die auch eng mit dem Landkreis zusammenarbeitet, hat die Stiftung St. Anna in den vergangenen Jahren ihren Einsatz auf diese jungen Menschen ausgeweitet. In Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche und der Pfarrei St. Martin wurde unter anderem im St-Vincentius-Haus eine Wohngruppe für acht jugendliche Flüchtlinge eingerichtet. „Kompaß“, so lautet intern der Begriff der Stiftung für diese Außenstelle.
Mohamad und Abdu aber wurden bislang in einer Gruppe zusammen mit deutschen Jugendlichen betreut. Wenn die Eltern in Deutschland eingetroffen sind, soll die Familie zunächst in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung Platz finden, die von St. Anna bereitgestellt werden kann. Der Leiter der Stiftung, Michael Lindauer, hofft darauf, dass sich das bald ändern wird, trotz der auch in Leutkirch herrschenden Engpässe auf dem Immobilienmarkt.
Zukunftsthemen. Der Blick zurück von Mohamad beginnt am 28. August 2015 um 12.30 Uhr Ortszeit in Aleppo. Es fällt im Gespräch mit dem Flüchtling auf, dass er sich besonders wichtige Daten der Flucht sehr genau gemerkt hat. Bisweilen geht es sogar um Minutenangaben. Mohamad stand nach der Trennung von den Eltern fortan in der Verantwortung für sein eigenes Überleben und jenes des jüngeren Bruders. Abdu äußert sich im Gespräch nur wenig. Er nickt immer dann, wenn der ältere in ihrer neuen Umgebung begleitet. „Die Aufgaben sind breit gestreut, wir haben es mit sehr individuellen Schicksalen zu tun“, betont Holger Theiß, der Kompaß leitet. Andere Kulturen müssen ebenso dabei berücksichtigt werden wie auch sehr unterschiedliche Erfahrungen vor und während der Flucht. „Die jungen Menschen müssen erst einmal mit ihrer neuen Lage klarkommen.“Jochen Narr, der Gesamtverantwortliche für alle Wohngruppen der Stiftung, hält fest: „Sie wären alle lieber daheim und würden dort in Frieden leben.“Mit Spenden sollen unter anderem Zuschüsse für besondere Therapien oder für notwendige medizinische Eingriffe finanziert werden. (sz) Bruder besonders viel Wert legt auf wichtige Passagen dieser Reise ins Ungewisse, die das Paar nach Deutschland und nach Leutkirch geführt hat. Die Syrer zählten zu jenen Flüchtlingen, die im November 2015 in der vorübergehend zur Notunterkunft umgebauten Sporthalle der Geschwister-Scholl-Schule Zuflucht fanden nach ihrer Ankunft in Deutschland. „Pass auf deinen Bruder auf.“Mohamad nimmt immer wieder Bezug auf den Appell des Vaters, den dieser ihm angetragen hatte.
Verhandlungen mit Schleppern
Das Gespräch über die Flucht der beiden deckt sich mit anderen Flüchtlingsschicksalen aus jenem Jahr 2015. Erst im zweiten Versuch, verbunden mit Todesängsten, war es den Brüdern gelungen, via Türkei Griechenland zu erreichen. Von den Eltern, der Vater der Brüder hatte in Syrien mit Immobilien gehandelt, waren Mohamad und Abdu zwar auch mit Geld ausgestattet worden. Eine Garantie bedeutete das noch lange nicht, um die Torturen zu überstehen. Mal ist von Beträgen in Höhe von 20, mal von 40 Euro zu hören, wenn Mohamad über Verhandlungen mit Schleppern spricht. Hier der Wunsch, dem Terror in seiner syrischen Heimat zu entkommen. Da die Erkenntnis, dass andere Leute mit der Not der Flüchtenden Geschäfte machen wollten auf dem Weg über die Balkan-Route nach Deutschland. „Ich musste hart sein“, das sagt zwei Jahre später ein für sein Alter gereift wirkender junger Mann, der während jener Wochen Ende 2015 auch nicht so richtig erahnen konnte, was ihn und seinen Bruder erwarten würde.
Die Ursachen dieser Flucht kann auch die Stiftung St. Anna nicht beseitigen. Aber deren Folgen abmildern. Die beiden Jugendlichen, die auf dem Sofa in ihrer Wohngruppe nebeneinander sitzen, haben viel durchgemacht. Sie wussten anfangs nicht, wo ihre Flucht enden würde. In Deutschland? Gar in Leutkirch? Das Ziel hieß, dem Terror des Krieges zu entkommen. Durchkämpfen. In Aleppo, wo die Familie zuletzt gemeinsam gelebt hatte, waren 2015 normale Strukturen nicht mehr vorhanden.
Nun redet Mohamad nicht über Politik. Er hat den innigen Wunsch, endlich wieder Mutter und Vater in die Arme nehmen zu können. Auch Jochen Narr gibt zu, bei dem Gedanken daran spüre er schon jetzt eine Gänsehaut. Das Schicksal dieser Familie, es wird nach allem Augenschein nicht darin enden, dass das Lebewohl jenes Augusttages 2015 das letzte war. Zwei unbegleitete minderjährige Flüchtlinge erhalten die Chance, ihren Alltag in Deutschland zusammen mit Vater und Mutter neuerlich zu organisieren. „Auch für die Eltern wird es unter Umständen eine harte Landung geben“, darauf verweist Jochen Narr dennoch.
Vermehrt sind zuletzt in Deutschland auch Vorstellungen geäußert worden, die den syrischen Präsidenten Assad durchaus als verlässlichen Gesprächspartner dabei betrachten, Flüchtlinge aus dem Kriegsland wieder abzuschieben.
Mohamad und Abdu besitzen mittlerweile ein Bleiberecht.