Ich sehe wen, den du nicht siehst
In der Komödie „Voll verschleiert“darf über die traditionelle Kleiderordnung im Islam gelacht werden
Es ist eine der spritzigsten Komödien des zu Ende gehenden Jahres: In „Voll verschleiert“nimmt die iranische Regisseurin Sou Abadi die Ängste und Vorurteile der westlichen Welt ebenso auf die Schippe wie die Vollverschleierung von Frauen im Islam.
Als Leilas (Camélia Jordana) Bruder Mahmoud (William Lebghil) von einer Reise in den Jemen zurückkehrt, ist er ein anderer Mensch. Nicht nur sein Bart und seine Kopfbedeckung deuten auf eine Radikalisierung hin. Mahmoud reißt die Fotos von den Wänden, die eine glückliche Familie zeigen, und ersetzt sie durch ein Bildnis seines geistigen Führers. Und natürlich verbietet er seiner Schwester den Umgang mit Männern im Allgemeinen und mit ihrem Freund Armand (Félix Moati) im Besonderen. Dabei ist es dem Studentenpaar durchaus ernst, demnächst steht ein gemeinsames Prakti- kum bei den Vereinten Nationen in New York auf dem Programm. Um den Kontakt zur Liebsten aufrechtzuerhalten, fasst Armand den kühnen Plan, sich mit einem traditionellen Niqab zu verkleiden, der nur Augen und Hände unverhüllt lässt. Mahmoud ist entzückt, als die angeb- liche Freundin seiner Schwester auftaucht, die offensichtlich auf dem Pfad der Tugend wandelt.
Es war eine gefährliche Gratwanderung, auf die sich die im Iran aufgewachsene Autorin und Regisseurin Sou Abadi mit ihrem Debüt begeben hat. Männer in Frauenkleidern sind ohnehin schon schwierig in Szene zu setzen, möchte man nicht in Klamauk abgleiten. Und es war mehr als mutig, das „Manche mögen’s heiß“-Prinzip auf eine Geschichte anzuwenden, in der der radikale Islam eine zentrale Rolle einnimmt. Was in einem großen Desaster hätte enden können, ist eine der klügsten und schönsten Komödien des Kinojahres geworden.
Gekonnt spielt der Film mit den Ängsten und Vorurteilen, die in der westlichen Welt aufkommen, wenn etwa eine verschleierte Person einen Bus betritt oder das eigene Kind sich neuerdings intensiv mit dem Islam beschäftigt. Bei aller Komik bleibt der Blick der Geschichte stets differenziert. Nicht der Glauben ist das Problem der Menschheit, sondern Dummheit und Ignoranz.
Voll verschleiert. Regie: Sou Abadi. Mit Félix Moati, Camélia Jordana, William Lebghil. Frankreich 2017. 87 Minuten. FSK ab 6.