Situation in Syrien immer dramatischer
Erneut mehrere Tote in der Krisenregion – Merkel und Macron appellieren an Russland
NEW YORK/DAMASKUS/BERLIN Die Region Ost-Ghuta in Syrien leidet weiter unter einer der schlimmsten Angriffswellen seit Jahren. Die syrischen Regierung struppenha ben ihre heftigen Attacken auf das belagerte Rebellengebiet den sechsten Tag in Folge fortgesetzt. Bei Bombardierungen aus der Luft und Beschuss mit Artillerie seien mindestens neun Zivilisten getötet worden, meldete diesyrisc he Beoba ch tungs stelle für Menschenrechte am Freitag. In New York kam derweil erneut der UN-Sicherheitsrat zusammen.
Eine 30-tägige Waffenruhe schien nach Beratungen von UN-Botschaftern hinter verschlossenen Türen am Freitag zunächst greifbar. Eine dort für den Vormittag geplante Abstimmung über eine entsprechende Resolution wurde dann jedoch zweimal verschoben, um der Vetomacht Russland, dem wichtigsten Verbündeten von Syriens Präsident Baschar al-Assad, entgegenzukommen. Zuvor hatten Kanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron an Russlands Präsident Wladimir Putin appelliert, auf eine Waffenruhe in Ost-Ghuta und Zugang für humanitäre Helfer zu den belagerten Gebieten zu drängen.
Offenbar hat sich die Versorgungslage dort dramatisch verschlechtert. In Ost-Ghuta ernährten sich Menschen teils von Tierfutter, hieß es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken. Die mangelhafte Versorgung sei vor allem damit zu erklären, dass das syrische Regime den Zugang für Helfer verweigere. Wurden 2016 noch 21,3 Prozent der Menschen in belagerten Gebieten im monatlichen Durchschnitt erreicht, waren es demnach 2017 noch 9,1 Prozent.
„Die Menschen sterben, weil es an den einfachsten Dingen fehlt“, sagte Christof Johnen, der Leiter Internationale Zusammenarbeit beim Deutschen Roten Kreuz, am Freitag zur „Schwäbischen Zeitung“. „Schon mit Verbandsmaterial und Schmerzmitteln könnte man sehr vielen helfen. All das steht bereit. Das Problem ist: Alle Seiten blockieren Hilfslieferungen, insbesondere mit medizinischem Material.“Noch wichtiger als lange Verhandlungen über eine Waffenruhe sei „die Garantie, dass unsere Helfer nicht angegriffen werden“.
Seit Wochenbeginn sind nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bereits mehr als 400 Zivilisten in der Krisenregion Ost-Ghuta ums Leben gekommen, darunter auch viele Kinder.
ISTANBUL - Mit lokalen Protesten gegen die Regierung von Präsident Baschar al-Assad fing es vor fast acht Jahren an. Mitten im Schwung des Arabischen Frühlings waren die ersten Unruhen in Syrien im März 2011 zunächst keine Sensation, doch mittlerweile ist das geschundene Land zur Bühne eines weltpolitischen Machtkampfes geworden. In Syrien kreuzen sich politische und religiöse Konfliktlinien, alte Bündnisse zerbrechen, neue Allianzen werden geschmiedet. Es gibt keine Anzeichen für ein baldiges Ende dieses Krieges – er könnte sich vielmehr leicht auf die ganze Region ausbreiten.
Fast ebenso entscheidend wie der Frühling 2011 ist für den Syrien-Konflikt der Herbst 2015, der den Beginn der russischen Intervention markiert. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten flog die russische Luftwaffe Angriffe in Nahost. Auch der Rückzug der USA aus dem Nahen Osten machte den Weg für die Russen frei.
USA in anderer Rolle
Seit dem Zweiten Weltkrieg hatten sich alle Akteure in der Region mit einer Konstante angefreundet: Amerika war mit seiner militärischen und wirtschaftlichen Macht die letztlich entscheidende Kraft. Die Amerikaner stützten Israel sowie muslimische Verbündete wie Ägypten, Saudi-Arabien und die Türkei und waren Oberschiedsrichter im israelisch-palästinensischen Konflikt. Doch unter Barack Obama und Donald Trump hat sich das geändert: Beide Präsidenten reagierten auf die Kriegsmüdigkeit ihrer Wähler nach den verlustreichen und teuren Konflikten in Afghanistan und im Irak seit dem Jahr 2000. Heute sind die USA deshalb nur mit 2000 Soldaten in Syrien präsent und darauf angewiesen, mit Hilfe der Kurden die Osthälfte des Landes zu sichern.
Anders als Russland, das Assad stützt und sich als neue Nahost-Macht etablieren will, haben die USA bisher nicht so recht erklären können, welche Ziele sie in Syrien eigentlich verfolgen. „Es gibt keine umfassende Strategie“, sagte Alex Vatanka vom Middle East Institute in Washingon der „Schwäbischen Zeitung“. „Und das gibt anderen den Spielraum, um sich um ihre eigenen Interessen zu kümmern.“
Streit um Einfluss und Ressourcen
Seit 2014 hatte der Kampf gegen den IS viele Gegensätze der einzelnen Mächte zugunsten des Vorgehens gegen den gemeinsamen Feind in den Hintergrund rücken lassen. Nun, da die Dschihadisten militärisch besiegt sind, geht es den Beteiligten nicht vorrangig um ein Ende des Krieges, die Rückkehr der bis mehr als fünf Millionen syrischen Flüchtlinge im Ausland und einen Wiederaufbau des Landes. Lokale, regionale und globale Mächte streiten sich vielmehr um Einfluss, Ressourcen und Territorium. Die Konkurrenz der Supermächte Russland und USA sowie das Fehlen einer klaren amerikanischen Strategie bilden den Rahmen eines Krieges, der längst andere Akteure auf den Plan gerufen hat.
Die schiitische Führungsmacht Iran zum Beispiel wittert die Chance, Assads Syrien als Teil einer Brücke von Teheran über Bagdad und Damaskus bis nach Libanon am Mittelmeer zu nutzen. Als Partner Irans mischt die libanesische Hisbollah auf der Seite Assads in Syrien mit. Dagegen wehren sich die sunnitischen Gegner der Iraner am Golf und Israel, das die iranische Machtausbreitung als existenzielle Gefahr sieht. Ein israelisch-iranischer Krieg neben dem Syrien-Krieg ist deshalb möglich.
Im Norden Syriens verfolgt auch die Türkei ihre eigenen Ziele. Nachdem Ankara in den ersten Jahren des Syrien-Konfliktes vor allem Assads Entmachtung anstrebte, hat heute die Zerschlagung der Autonomie der syrischen Kurden entlang der langen Grenze mit der Türkei für Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Priorität. Da die Kurden mit den USA im Kampf gegen den IS und zur Abwehr russischer und iranischer Ambitionen verbündet sind, befinden sich die Nato-Partner Ankara und Washington auf Kollisionskurs. Fast alle Akteure im Syrien-Konflikt bedienen sich lokaler Milizen, um ihre Ziele zu erreichen. Diese Stellvertreter haben häufig jedoch ganz eigenes im Sinn, was die Lage auf den Schlachtfeldern unübersichtlicher macht.
Desinteressse der Europäer
Die widerstrebenden Interessen führen zu neuen Bündnissen, die in den kommenden Jahren die Weltpolitik verändern könnten. Zwischen Russland, Iran und der Türkei ist eine antiwestliche Achse entstanden. Der Zusammenhalt des westlichen Lagers wird dagegen durch das Desinteresse der Europäer und durch die Konzeptlosigkeit der USA geschwächt.
Wie in einem Kaleidoskop gibt es immer wieder neue Konstellationen: Assad ist kein Freund der syrischen Kurden, unterstützt sie aber im Kampf gegen die Türken. Keiner der Akteure kann sich seiner Position wirklich sicher sein. Russland sieht aus wie der militärische Sieger in Syrien, doch Wladimir Putin weiß, dass der Krieg bei der eigenen Bevölkerung unbeliebt ist. Um den Konflikt zu beenden und Russland zu neuem Ruhm als Friedensmakler zu führen, braucht Putin unter anderem die Türken und die Iraner. In der Türkei steht Erdogan vor schwierigen Wahlkämpfen, und in Iran begehrt das Volk gegen den teuren Krieg in Syrien auf.
Fest steht schon jetzt, dass der Syrien-Konflikt das Machtgefüge im Nahen Osten auf Dauer verändert hat. Russland dürfte die gewonnene Machtposition, symbolisiert durch eine Luftwaffenbasis bei Latakia und einem ausgebauten Marinestützpunkt in Tarsus am Mittelmeer, so schnell nicht wieder aufgeben. Es ist möglich, dass Syrien am Ende zerrieben wird, in einzelne Einflusszonen zerfällt und auf Jahre hinaus ein Krisenherd bleibt.