Nach der Festnahme gibt es keine Currywurst
Wie realistisch sind Krimis? Kripochef vergleicht die Literatur mit dem echten Leben
RAVENSBURG - Krimis boomen. Am Bodensee sowieso. Woher kommt diese mystische Lust am Bösen? Ist es das schaurige Gruseln vor den Abgründen menschlichen Handelns? Oder geht es nur um spannende Unterhaltung fokussiert auf die Frage „Wer ist der Täter?“In der Realität wird Gewaltkriminalität weit überwiegend von Männern begangen. Als Täterinnen spielen Frauen bei Mord und Totschlag dagegen eine völlig untergeordnete Rolle. Bei der KrimiLeserschaft ist es anders herum, hier dominieren Frauen deutlich.
Als Jury-Mitglied des großen Krimiwettbewerbs von Emons-Verlag, Ravensbuch und „Schwäbischer Zeitung“habe ich die vier Krimis, die es unter den gut 40 Einsendungen von der ersten Runde in die Endauswahl geschafft haben (Regina Riest: „Stiller Bach“, Markus Reppner: „Tod eines Richters“, Helmut Jäger: „Der Richter“und Robin Hoyer: „Höllenfeuer“) begutachtet und muss sagen: Chapeau!
Alle vier Entwürfe sind gut gelungen. Ich habe sie mit Vergnügen gelesen. Nicht nur wegen des Lokalkolorits, sondern weil die vier Fälle insgesamt zumeist logisch aufgebaut, über weite Strecken spannend und nach meinem Empfinden auch sprachlich gut geschrieben waren. Klassischer Ausgangspunkt aller Krimiautoren war zu Beginn jeweils eine Leiche. In einem Fall recherchierte ein Privatermittler im Auftrag einer Kanzlei. In den übrigen Fällen kam, wie auch beim Siegertitel „Stiller Bach“, oft gleich ein ganzes Ermittlerteam zum Einsatz.
Aber wie realistisch sind Krimis eigentlich? Vorab der größte Unterschied: Reale Fälle schreibt sozusagen das Leben. Und da gibt es fast nichts, was es nicht gibt. Oft sind die Fälle aber auch banal. Oder der Täter ist am Ende der, auf den von Anfang an alles hingedeutet hat. Vor allem aber: Krimis – egal ob Kriminalromane oder Fernsehkrimis - müssen eines sein: spannend und unterhaltsam. Und am Ende muss der Fall natürlich aufgeklärt und der Täter zur Strecke gebracht werden. Im Krimi entpuppt sich dann zumeist jemand als Täter, der anfangs eine Randfigur war
ei echten Ermittlungen haben wir kein Drehbuch oder können auf den „letzten Seiten mal eben blät- tern“, wer es war. Deshalb sind systematisch angelegte Ermittlungen gefragt. Mit oberflächlichem Herumstochern im Fall kommt man bestenfalls mit Glück zur Klärung des Falls. Ausgangspunkt der Ermittlungen muss eine fundierte, auf geprüften Fakten basierende Tathypothese sein. Was könnte dem Mord zugrunde liegen? Eine Beziehungstat? War es ein planmäßiges Tötungsverbrechen? Oder spontan zum Beispiel nach einem Streit? Gibt es eine Vorgeschichte? Welche Motive kommen in Betracht? Wie ist der Täter vorgegangen? Wie kam er zum Tatort? Ist Tatort gleich Fundort? Warum geschah die Tat nicht anderenorts? Tötungsart? Hat der Täter Spezialkenntnisse? Welche Spuren sind zu erwarten? Was hat der Täter getan, was zur Tatausführung nicht zwingend erforderlich war? Fehlen Gegenstände des Opfers? Und, und, und... Mehrgleisig angelegte Ermittlungen sind gefragt. Und sich nicht vorschnell auf eine Tathypothese festlegen. Aber auch nicht in alle Richtungen ermitteln, sonst verzettelt man sich unweigerlich.
Teilweise deutliche Abweichungen
Schnell, gründlich und umfassend müssen das Opfer, seine Lebenssituation, sein Umfeld und die letzten Tage seines Lebens ausgeleuchtet werden. Spuren sind vergänglich, und das Erinnerungsvermögen potenzieller Zeugen lässt nach. Deshalb ist Eile geboten. Bei Durchsicht der Krimis aus dem Krimiwettbewerb – aber auch beim Vergleich mit Fernsehkrimis - sind mir folgende Unterschiede aufgefallen, die von der realen Polizeiarbeit teils deutlich abweichen: Einzelkämpfer statt Teamarbeit: Erfreulich, die eingereichten Krimis hatten überwiegend nicht „nur“einen mehr oder weniger genialen Kommissar oder eine Kommissarin, die den Fall im Alleingang löste. Nein! Zumeist kam ein ganzes Ermittlerteam zum Einsatz. Dicker Pluspunkt!
Gefährliche Alleingänge: Kommt statt dem Einzelgänger ein Ermittlerduo zum Einsatz, trennen diese sich häufig. „Du gehst zur Familie des Toten“, „ich schaue mir mal dies oder das an“. Sehr oft münden diese Alleingänge – nicht selten an abgelegenen Orten - in gefährlichen Situationen für die Ermittler. Das ist gut für die Spannung, aber unrealistisch. Al- le Ermittlungen erfolgen grundsätzlich zu zweit.
Ermittler in geordneten Familienverhältnissen scheinen ausgestorben: Führen wir uns die Fernsehkommissare oder Ermittlerinnen vor Augen: Verheiratet und Kinder? Fehlanzeige! Mindestens geschieden. Häufig sozial entwurzelt, immer mit leerem Kühlschrank oder gleich irgendwo in Hotelzimmern hausend. Gerne aus einer anderen Region stammend und (straf-)versetzt. Oft auch mit posttraumatischen Ereignissen aus früheren Fällen belastet. In den eingereichten Krimis war hier die ganze Bandbreite gegeben, aber auch etliche erfreulich „normale“Ermittler wurden von den Krimiautoren des Wettbewerbs skizziert.
Büroarbeit kommt immer zu kurz: Gott sei Dank möchte man sagen! Sonst wäre jeder Krimi schnell langweilig. Wer möchte schon dabei sein wenn am PC Dateien bearbeitet oder ellenlange Excel-Listen mit Personalien nach verschiedenen Kriterien abgeglichen werden?
Aber auch an der Dokumentation von Ermittlungen vor Ort hapert es. Der Kugelschreiber bleibt stecken. Protokolle werden kaum erstellt. Wenn es mal Akten gibt, sind die so dünn, dass man fast hindurchsehen kann. Und wenn der Bösewicht festgenommen ist und gestanden hat, können die echten Ermittler keine Currywurst essen oder ein Bier trinken gehen, sondern müssen einen Haftbefehl beantragen, den Beschuldigten einem Haftrichter vorführen und dann erst noch in eine Justizvollzugsanstalt einliefern.
Der Ermittler hat immer das richtige Equipment dabei: Wird jemand festgenommen, zaubern Ermittler aus ihren Taschen eine Handschließe. Geht es um die Sicherstellung eines Haares oder anderer Spuren, hoppla, zieht der Kommissar ein Tütchen hervor, in der das Haar, ein Projektil oder was auch immer, ohne weitere Dokumentation verpackt wird. Nachts ist auch immer eine Taschenlampe zur Hand. Real bedarf es für die Spurensicherung bei einem Mordfall umfangreicher Ausrüstung und Materialien, für die selbst ein Pkw-Kombi zu klein ist. Schon bei der Übergabe an die Kriminaltechnik, spätestens aber vor Gericht würde man mit dieser „Spurensicherung aus der Jackentasche heraus“Schiffbruch erleiden. Weiße Spurenschutzanzüge tragen im Fernsehen übrigens immer nur die Kriminaltechniker. Als ob die Ermittler keine DNA-Trugspuren legen könnten.
Zeugen und Verdächtige spazieren ins Büro des Ermittlers: Kein Zeuge oder gar Verdächtiger wird in die Räume der Ermittler geführt und darf dort so ganz nebenbei Übersichtstafeln mit Tatortbildern oder gar Skizzen und Diagramme mit Namen anderer fallrelevanter Personen ansehen. Ein schwerer handwerklicher Fehler und zudem ein gravierender Verstoß gegen den Datenschutz.
Es bedarf etlicher Ermittlungstrupps
Der alleskönnende Ermittlungsassistent: Arrondiert wird das Ermittlerduo häufig von einem „Innendienstermittler“, bei dem ungeliebte Recherchearbeiten oder Videoauswer- tungen – oft wenig nett und wertschätzend – abgeladen werden, während die Kommissare die Füße auf den Schreibtisch legen und über den Fall philosophieren, ohne auch nur eine einzige Zeile über die von ihnen getätigten Ermittlungen zu schreiben. Sensationell, was diese Innendienstermittler – manchmal auch als Sekretärin auftretend – über Nacht so alles herausbekommen! In der Realität bedarf es etlicher Ermittlungstrupps, um all die notwendigen Erkenntnisse systematisch zusammenzutragen und gerichtsfest aufzubereiten.
Schutzpolizei als Statisten: Kaum ein Krimi verzichtet darauf, uniformierte Schutzpolizisten als Bewacher, Statisten. oder Kaffeeholer einzusetzen.B Offen gesagt, mir blutet da immer ein bisschen das Herz. Denn die Beamten der Schutzpolizei sind zumeist die Ersten am Tatort und stellen oft entscheidende Weichen dafür, dass ein Kapitalverbrechen aufgeklärt werden kann, indem sie den Tatort sichern, Zeugen feststellen und vergängliche Spuren schützen, die Ermittlungen durch ihre Orts- und Personenkenntnis unterstützen und oft wertvolle Informationen geben.
In die Rolle von Statisten und Handlangern der Kriminalpolizei werden sie von Krimiautoren zu Unrecht gedrängt. Im realen Polizeialltag sind unsere Kollegen von der Schutzpolizei wichtige Partner.
Die unheilvolle Rolle von Staatsanwälten und Polizeichefs: Während der ermittelnde Kriminalhauptkommissar oder die Mordermittlerin das Herz auf dem rechten Fleck hat und sich aufopferungsvoll an der Aufklärung des Mordfalls abarbeitet, fällt dem Vorgesetzten und/oder der Justiz fast immer eine sehr unsympathische Rolle zu. Wahlweise der Staatsanwalt oder der Polizeipräsident lassen im Krimi kaum eine Gelegenheit aus, dem Ermittler Prügel zwischen die Beine zu werfen oder die Ermittlungen bestmöglich zu behindern. Da werden Ultimaten gestellt wie „Sie haben 24 Stunden Zeit den Fall zu klären“oder ähnliches. Und Staatsanwälte werden gerne auch etwas mondän dargestellt, residieren nicht selten in villenartigen Anwesen und verfügen über fürstlich anmutende Büros.
Mein Fazit: Zwischen der Realität und den Krimis liegen zumeist Welten. Und das ist gut so. Denn schließlich geht es beim Krimi um Spannung und Unterhaltung statt der Aufklärung schwerer Straftaten und detailgetreuen Aufbereitung von Tötungsverbrechen für den folgenden Strafprozess. Bisweilen kommen Krimis in einzelnen Sequenzen der Ermittlungsarbeit aber auch recht nahe, wie im Siegertitel „Stiller Bach“des Krimiwettbewerbs.
Uwe Stürmer war Leiter der Polizeidirektion Ravensburg. Im Zuge der Polizeireform wurde er zum stellvertretenden Leiter des Polizeipräsidiums Konstanz und Chef der Kriminalpolizei bestellt. Derzeit ist er für die Planung und den Aufbau des neuen Polizeipräsidiums in Ravensburg freigestellt. Im Krimiwettbewerb war er eines von fünf Jury- Mitgliedern.