Das Erbe des Widerstands
Berthold Maria Schenk Graf von Stauffenberg, ältester Sohn des Widerstandskämpfers, erinnert sich an dramatische Tage
Wenn Berthold Schenk Graf von Stauffenberg heute über seinen Vater, den Hitler-Attentäter Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg spricht, spricht er von „liebevoller Erinnerung“. Daher werden Fotos wie dieses, das Berthold im Jahr 1938 mit seinem Vater zeigt (Repro: Michael Scheyer), in der Familie besonders gehütet. 74 Jahre nach dem misslungenen Attentat berichtet der heute 84-Jährige, das älteste von fünf Kindern und selbst Vater dreier erwachsener Kinder, im Interview der „Schwäbischen Zeitung“über die Tage nach dem 20. Juli 1944, den Schock nach der Hinrichtung des Vaters und der Verhaftung der Mutter, seine Jugend und seinen Beruf – wie sein Vater wurde er Offizier. Als Zeitzeuge fordert er, das Erbe des Widerstands, die Ideale von Freiheit, Recht und Gerechtigkeit zu verteidigen.
Heute vor 74 Jahren, am 20. Juli 1944, wollte Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg im Führerhauptquartier Wolfsschanze Adolf Hitler töten. Das Attentat misslang, von Stauffenberg und weitere Offiziere des Widerstands wurden in der Nacht zum 21. Juli hingerichtet. Berthold Maria Schenk Graf von Stauffenberg (84), der älteste Sohn des Widerstandskämpfers, erinnert sich im Gespräch mit Michael Scheyer und Ludger Möllers an jene dramatischen Tage und fordert, im Gedenken an den deutschen Widerstand nichts zu vergessen. Versuche der AfD, den Geist des Widerstands zu vereinnahmen, lehnt von Stauffenberg ab.
Wie haben Sie, Graf von Stauffenberg, die Tage des 20. Juli 1944 und danach erlebt?
Ich war zehn Jahre alt und hatte gerade in Bamberg die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium bestanden. Die Sommerferien verbrachten wir auf dem Familiensitz in Lautlingen. Dort habe ich schnell mitbekommen, dass es ein Attentat auf Hitler gegeben hatte, dass es gescheitert war, dass die Attentäter tot waren. Meine Mutter, die von meinem Vater in die Attentatspläne eingeweiht worden war, hat uns dann am 21. Juli gesagt: „Euer Vater hat das Attentat durchgeführt.“Mein jüngerer Bruder, der damals acht Jahre alt war, brach in Tränen aus. Ich fragte: „Warum wollte er den Führer töten?“Wie alle waren ja auch wir als kleine Nazis aufgewachsen. Meine Mutter sagte, mein Vater glaubte, es für Deutschland tun zu müssen. Das haben wir nicht verstanden.
Und wie ging es weiter?
Im gleichen Gespräch hat meine Mutter uns gesagt, dass sie wieder schwanger war. Und in der gleichen Nacht wurde sie von der Gestapo abgeholt, meine Großmutter und ihre Schwester eine Nacht später.
Wie wurden Sie behandelt?
Ich kann nicht sagen, dass wir Schlimmes erlebt hätten. Die Menschen in Lautlingen, die uns ja kannten, haben uns mitleidig und ohne Vorwürfe behandelt.
Hitler wollte Rache, auch an den Familien des Widerstands ...
Wir sind dann am 17. August abgeholt worden und kamen in ein Kinderheim nach Bad Sachsa in Thüringen. Ursprünglich hatte ein Bremer Unternehmer es für Arbeiterkinder aus Bremen gebaut. Dorthin brachten die Nazis nach und nach auch die Kinder der anderen Widerstandskämpfer, am Schluss waren wir 43. Die meisten von ihnen sind aber noch vor Weihnachten 1944 wieder nach Hause gekommen, denn die sogenannte Sippenhaft wurde nur auf einige Familien angewandt, deren Namen bekannt geworden waren.
Wie hat man Sie behandelt?
Wir wurden korrekt behandelt. Über das Attentat ist mit keinem Wort gesprochen worden. Das war wie ein stilles Übereinkommen.
Wie haben Sie das Kriegsende erlebt?
Am Dienstag nach Ostern 1945 sollten wir ins KZ Buchenwald verlegt werden. Dort saßen ja kurzzeitig vor ihrer Weiterverlegung nach Dachau auch viele Verwandte von uns. Bei der Einfahrt in den Bahnhof Nordhausen aber gerieten wir in einen Luftangriff, sodass wir wieder nach Bad Sachsa zurückfuhren. Das hat uns vielleicht das Leben gerettet.
Und Ihre Rückkehr?
Bad Sachsa wurde von den Amerikanern befreit. Der von den Amerikanern eingesetzte Bürgermeister kam zu uns und sagte: „Ihr seid frei.“Bis wir dann aber tatsächlich zurück nach Lautlingen kamen, dauerte es bis zum Juni: Eine Großtante organisierte die Rückfahrt.
Heute ist von der Befreiung Deutschlands die Rede, wenn über das Kriegsende gesprochen wird. Wie haben Sie die Zeit nach dem 8. Mai 1945 erlebt?
Natürlich waren wir als Familie befreit worden und dafür dankbar, aber als Volk fühlten wir uns als Besiegte und wurden auch so behandelt.
Lassen Sie uns über Ihren Vater sprechen: Welche Erinnerungen haben Sie an ihn?
Wir haben in den Kriegsjahren unseren Vater nur gelegentlich erlebt, wenn er im Urlaub bei uns war. Aber ich habe eine liebevolle Erinnerung an meinen Vater. Darum sind mir die Fotos mit ihm ja auch so wichtig.
Sie haben Ihren Vater verloren, als Sie zehn Jahre alt waren. Haben Sie eine Idee, wie Ihr Leben mit Ihrem Vater verlaufen wäre?
Nein, ich kann mir nicht vorstellen, wie meine Jugend verlaufen wäre, hätte mein Vater noch gelebt.
Hat Ihr Vater mit Ihnen über den Kriegsverlauf gesprochen?
Unser Vater war bei uns, als die Nachricht von der Invasion der Alliierten in der Normandie kam. Ich habe ihn darauf angesprochen, aber er hat nur mit den Schultern gezuckt und wollte das anscheinend nicht diskutieren.
Sie waren ebenso Soldat wie Ihr Vater. Sehen Sie Parallelen?
Nein, wir waren wohl sehr verschieden, und die Zeiten und auch unsere Werdegänge waren ganz anders. Ich glaube auch, dass ich eine viel umfassendere Ausbildung genossen habe als er – zum Beispiel auch Pionierund Sprengausbildung: Hätte mein Vater die gleichen Kenntnisse wie ich gehabt, hätte er gewusst, dass er die zweite Sprengladung beim Hitler-Attentat gar nicht eigens hätte scharf machen müssen, statt sie später wegzuwerfen. Wäre sie in der Tasche verblieben, wäre sie zusammen mit der ersten Ladung detoniert und hätte deren Wirkung verstärkt. Möglicherweise war die fehlende zweite Ladung die Ursache, dass das Attentat scheiterte und Hitler überlebte.
In der Nachkriegszeit mussten Sie, vaterlos, mit vier jüngeren Geschwistern, mit Ihrer Mutter das fehlende Schuljahr nachholen und Ihre Schulzeit fortsetzen. Wie erinnern Sie sich an diese schwierige Zeit?
Nach zwei Jahren, in denen meine Mutter einen Hauslehrer engagiert hatte, kam ich 1947 aufs Internat nach Salem. Auf dem Schwarzmarkt konnte sich das Internat nicht versorgen, sodass wir von den Bauern Äpfel bekamen, manchmal gab’s Kohlen. Ich konnte mir vor 70 Jahren, bei der Währungsreform, nicht vorstellen, dass man einfach so in einem Laden beispielsweise eine Schere kaufen konnte. Eine Schere war bis dahin eine gut gehütete Kostbarkeit. Jetzt ging das.
Wurde im Internat über die Taten der Väter gesprochen?
Nein. In Salem waren einige andere Kinder von Widerstandskämpfern. Aber der Widerstand, der Verlust der Väter, war einfach kein Thema. Und unser Schicksal war ja auch nichts Besonderes: Viele andere Kinder hatten wie wir ihren Vater verloren, Ehefrauen ihren Mann. Dass unser Vater unter schrecklichen Umständen ermordet worden war, wurde nicht besprochen.
Der 20. Juli wird heute als Gedenktag an die Frauen und Männer des Widerstands begangen. Im Bendlerblock in Berlin, wo sich 1944 das Zentrum der Widerstandsgruppe befand und heute der Berliner Sitz des Verteidigungsministeriums befindet, findet ebenso wie in der Ulmer Wilhelmsburg-Kaserne eine Gedenkveranstaltung statt.
Wie sollte das Gedenken an den Widerstand, seine Ideale von Freiheit, Gerechtigkeit und europäischer Idee, fortgeführt werden?
Unsere Familie ist der Meinung, dass das Gedenken an den 20. Juli und an die Widerstandskämpfer eine öffentliche Aufgabe ist. Wir als Familie pflegen eine eigene Form des Gedenkens.
Und wie sollte sich das Gedenken gestalten?
Uns ist wichtig, dass nichts vergessen und nichts verfälscht wird. Natürlich ist jedes Gedenken auch abhängig von den Umständen. Beispielsweise haben wir es in den 70erJahren erlebt, dass sich die öffentliche Meinung wandelte. War vorher in manchen Kreisen von den Widerstandskämpfern als Verrätern die Rede, so wurden sie jetzt als Vorbilder dargestellt. Das lag auch daran, dass die Kriegsgeneration ausstarb und die Nachgeborenen eine eigene Sichtweise entwickelten. Uns ist eine unbefangene Darstellung wichtig.
Wenn sich die AfD heute auf Symbole und Personen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus beruft, verfolgt sie die Strategie, Deutschland als unfreies Land und die eigenen Politiker als Kämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit zu positionieren.
Die AfD versucht seit geraumer Zeit, sich in die geistige Linie der Widerstandskämpfer zu stellen, hat auch schon versucht, das geistige Erbe der Geschwister Scholl für sich zu reklamieren. Wie reagieren Sie auf diese Ansinnen?
Wir lehnen jede Vereinnahmung der Widerstandskämpfer, egal durch welche Seite, ab. Wenn sich jetzt die AfD-Politiker bemüßigt fühlen, sich als geistige Erben der Frauen und Männer des 20. Juli ins Spiel zu bringen, dann ist das falsch. Ebenso falsch wie die Bemühungen der damaligen DDR, mit Gedenkmünzen den Widerstand zu ehren. Jahrzehntelang waren die Widerständler wie Henning von Tresckow als reiche Junker verunglimpft worden.
Und was tun Sie?
Wir können uns wehren, es aber nicht verhindern.
Beruflich haben Sie die Familientradition fortgeführt, als Offizier zu dienen. War Ihr Name in der Karriere eher hinderlich oder förderlich?
Ich habe mich schon früh entschlossen, Offizier werden zu wollen. Direkt nach dem Abitur 1953 schickte mir das „Amt Blank“, das war von Oktober 1950 bis Juni 1955 die Vorgängerinstitution des Bundesministeriums der Verteidigung, eine Bestätigung meiner Bewerbung, aber man bräuchte mich noch nicht. Also absolvierte ich einige Praktika und nahm ein Jurastudium auf. Als dann die ersten Freiwilligen Ende 1955 Soldat wurden, wurde ich angesprochen. Aus persönlichen Gründen wollte ich das Semester beenden und habe dann zum 2. Mai 1956 meinen Dienst in Bremen angetreten.
Und dann gab es doch Begegnungen mit der Familientradition!
Ich kam zur Panzeraufklärungstruppe. Es gab auch ältere Offiziere, die meinen Vater noch gekannt hatten. Er war ja in der Kavallerie der Reichswehr einer der Besten seines Jahrgangs gewesen, hatte etliche von ihnen auch ausgebildet. Und so fragten sich natürlich die Oberstleutnants und Obersten: „Ist der Junge so wie der Alte?“Und einer sagte: „Der Junge ist ein guter Rotwein, aber der Vater war Sekt!“
Haben sich diese älteren Kameraden über Ihren Vater und seinen Widerstandskreis geäußert?
Nein, der Widerstand spielte in meiner Bundeswehrzeit keine Rolle. Nie hat mir gegenüber jemand von den Frauen und Männern des Widerstands als Verrätern gesprochen. Von den unverbesserlichen Nazis wurde die Bundeswehr abgelehnt.