Grenzüberschreitungen in Wort und Musik
Fabian Dobler und Detlef Vetten gehen in Singen zum „Alpentrekking mit Beethoven“
SINGEN - Was ist das? Oper? Theater mit Musik? Beethoven-Interpretation mit eingebundenem Text? Im Singener Theater Die Färbe erlebt das Publikum im ungewöhnlichen Ambiente der Basilika das besondere Zusammenwirken von Wort und Musik: Drei Schauspieler, nebeneinander auf Stühlen sitzend, eine Akkordeonistin und ein Pianist am Bösendorferflügel bilden einen eng aufeinander bezogenen Halbkreis. Fabian Dobler, der aus Singen stammende, in Hamburg wirkende Musiker, Autor Detlef Vetten, Regisseur Peter Simon, die Akkordeonistin Antje Steen sowie Milena Weber, Alexander Klages und Elmar F. Kühling vom Ensemble der Färbe nehmen das Publikum mit auf eine geschichtsträchtige Nachtwanderung über den Brenner.
Diese Nachtwanderung haben Detlef Vetten, der frühere Sportjournalist, und Fabian Dobler, der nicht ganz so gut trainierte Musiker, wirklich unternommen: Von Innsbruck aus 65 Kilometer über den Brenner bis nach Franzensfeste, ausgerechnet im unwirtlichen November. Das ging nicht nur über Landesgrenzen, das führte sie auch an physische und psychische Leistungsgrenzen.
Historische Wegbegleiter
Detlef Vetten hat diese Erfahrungen in seinen Text einfließen lassen: Da sind Goethe, der Italien, das Land seiner Sehnsucht, mit der Kutsche erreichte, der Tiroler Volksheld Andreas Hofer und der Südtiroler Minnesänger Oswald von Wolkenstein die historischen Wegbegleiter seines Wanderers. Dunkeläugige Bardamen, besoffene Philosophen, Grenzgendarmen, und allerlei irrlichternde Gestalten begegnen ihm in den verschiedenen Wirtshäusern im Laufe der Nacht. Natürlich spielen auch Flüchtlinge, die in der Gegenrichtung über den Brenner wollen und aufgegriffen werden, mit hinein. Mit zunehmender Erschöpfung führt der Wanderer schon mal Fantasiegespräche mit Wolkenstein, die wie Fieberträume wirken, Schulkinder, die frühmorgens im Bahnhof am Handy abhängen, erscheinen ihm wie Zombies.
Die drei Stimmen fließen ein in eine Person, den Wanderer, sind zugleich seine Begleiter, Partner, Gegenüber: Milena Weber mit ihrer weichen Stimme und den großen dunklen Augen, die den Wanderer anschmachten. Elmar F. Kühling, der Hagere in der Uniformjacke, und Alexander Klages im bequemen Freizeitlook – sie sind unterwegs, über den Berg, getragen von der Musik Beethovens und anderen Liedern. Heinrich Isaacs „Innsbruck, ich muss dich lassen“zum Aufbruch, nicht frisch, sondern melancholisch – „Wo mag er hingegangen sein?“fragen sich die drei. Das Andreas-Hofer-Lied und Hubert von Goisern in einer herzhaften Polka spuken auch herum, doch der klingende Leitstern ist Beethoven mit seiner letzten Klaviersonate op. 111.
Das funktioniert erstaunlich gut, denn dem originalen Klavierklang hat Fabian Dobler noch das erdige, alpenländische Akkordeon beigegeben, mit dem Antje Steen besondere Akzente setzt und das dem Klang fast orchestrale Fülle gibt. Dazu verbinden sich die einzelnen Szenen auf der Wegstrecke mit den unterschiedlichen Charakteren der Variationen, die Beethoven hier über das Thema der langsam schreitenden Arietta geschaffen hat: Sie wirken bald scherzend leicht, bald stürmen sie in einem wilden rhythmischen Ausbruch. Zum Schluss steigen die Klänge in unendlichen Trillerketten in eine andere Welt auf. Musik und Wort beflügeln, ergänzen, spiegeln sich, sind sensibel aufeinander abgestimmt und nehmen sich gegenseitig nichts weg.
Wie es allerdings jemandem geht, der Beethovens komplexe letzte Sonate nicht so gut kennt? Neue Erfahrungen sind in jedem Fall garantiert in dieser Grenzüberschreitung.