Wie die Wangener „Heimatfront“das Kriegsende erlebt
Das Ende des Ersten Weltkriegs jährt sich am 11. November zum hundertsten Mal – Was passierte in der Region?
WANGEN - „Am 11.11., 11 Uhr vormittags französischer Zeit ging nach viereinvierteljähriger Dauer der Schrecklichste aller Kriege zu Ende. In Ehren senkten unsere Helden gleichzeitig mit dem Gegner die Waffen an allen Fronten. Gott sei gedankt!“Mit diesen Worten beschrieb der „Argen-Bote“, Vorgänger der „Schwäbischen Zeitung“, vor genau hundert Jahren das Ende des Ersten Weltkriegs. Was damals in der Region Wangen passierte, ist auch Teil eines Bildervortrags von Stadtarchivar Rainer Jensch am Mittwoch, 14. November, in der Häge-Schmiede.
Revolution, Ausrufung der Republik, Ende des Ersten Weltkriegs. Mit den Vorgängen in Deutschland vor genau hundert Jahren beschäftigen sich derzeit viele Beiträge und Dokumentationen. Doch was passierte in den über vier Jahren Krieg in der Allgäuer Heimat? „Durch das Jubiläum kommt dieser Weltkrieg zwar wieder ins Bewusstsein der Menschen“, sagt Rainer Jensch. „Doch die Zeit des Ersten Weltkriegs in der Region Wangen wurde historisch bislang nicht groß beachtet.“In der vor etwa drei Jahren erschienenen Wangener Stadtchronik ist der Zeit zwischen 1914 und 1918 aber ein eigenes, elfseitiges Unterkapitel gewidmet.
„Moralische Unterstützung für die Soldaten“
Wichtigste Informationsquelle für die damaligen Ereignisse in und um Wangen war das Wangener Tag- und Anzeigenblatt „Argen-Bote“, dass im Kellhof gedruckt und von Franz Walchner verlegt wurde. Der Großvater des heutigen Personengesellschafters der „Schwäbischen Zeitung“, Martin Walchner, lieferte nicht nur Kriegs- und Lageberichte, sein Blatt war laut Jensch auch Sprachrohr für die sogenannte „Heimatfront“. „Es war die moralische Unterstützung für die Soldaten: Postkarten, Proviant, Liebesgaben oder Extra-Ausgaben des Argen-Bodens wurden an die kämpfende Truppe geschickt, es wurde der gefallenen Helden gedacht und mit den Kriegsanleihen wurde der Weltkrieg finanziert.“
Auch in den letzten Kriegstagen Anfang November 1918 berichtet Walchner in der Ausgabe vom Samstag, 9.11., von der „bevorstehenden Abdankung des Kaisers – in Erwartung des Waffenstillstands“. Am Montag, 11.11., vermeldet er Vollzug und dass die „Waffenstillstandsbedingungen angenommen“wurden. Und: „Mit rasender Eile verbreitet sich die Revolution durch ganz Deutschland.“Was später an diesem Tag in Wangen passierte, steht dann in der Ausgabe vom 12. November, die den Titel „Des Völkerkrieges Ende“trägt.
Um 20 Uhr versammelt sich demnach die Arbeiterschaft – von der Zellstofffabrik, den Käsereien oder der Baumwollspinnerei – auf dem Postplatz. Der erste Redner, ein Maschinensetzer, weist auf den Sturz des alten Systems hin und lässt die Republik hochleben. Dann wünscht sich ein Gewerkschaftsführer, dass „die Lebensmittelversorgung besser geregelt werde“. Grundnahrungsmittel waren rationiert, bezahlt werden musste in den letzten Kriegsmonaten auch mit einem Notgeld.
Schließt ergreift Franz Walchner das Wort. Der Redakteur des ArgenBotens war damals selbst politisch aktiv – laut Jensch ein Mann der katholischen Zentrumspartei, welcher auch der hiesige Reichstagsabgeordnete Matthias Erzberger angehörte, der deutsche Bevollmächtigte bei den Waffenstillstandsverhandlungen mit den Alliierten.
Walchner also spricht zu den Arbeitern und beschreibt seine Worte im eigenen Blatt danach so: „Sozialdemokratie und Bürgertum haben sich gefunden, um gemeinsam aufzubauen, um Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten in bewegter Zeit. So sollen wir es auch halten in unserem geliebten Wangen, in Eintracht wollen wir wirken und fortschreitend eintreten für Volksrechte und soziale Gleichstellung. In diesem Sinne grüßt der demokratische Bürgersmann neue Zeichen, die aus Leid und Not hinüberführen sollen in eine bessere Zukunft.“Diese Textpassage im gebundenen Originalband vom Argen-Boten ist übrigens rot markiert – von Walchner selbst, wie Jensch vermutet.
Walchner ist mittendrin in der Wangener „November-Revolution“
Anschließend marschieren die Arbeiter Richtung Löwensaal (heutige Kreissparkasse), wo ein Werkführer bekannt gibt, dass künftig ein Arbeiterund Soldatenrat die Verteilung der Lebensmittel zusammen mit den Behörden regelt. Außerdem geißelt er angesichts teilweise enormer Versorgungsprobleme die „Preistreiberei“einiger Händler. Ein Mitglied des Isnyer Arbeiter- und Soldatenrats beschließt dann gegen halb Zehn die Versammlung „mit dem Ruf: Nieder mit dem Militarismus, nieder mit dem Kapitalismus, hoch die Republik!“.
In den darauffolgenden Ausgaben des Argen-Botens erfährt man, dass am 12. November ein Arbeiter-, Bauernund Soldatenrat „auch in Wangen in Tätigkeit getreten ist“. Mittendrin in der Wangener „NovemberRevolution“ist Franz Walchner, der Gesamtvorsitzender der Räte wird. Er ist auch einer der Unterzeichner eines Aufrufs zur Besonnenheit an Stadt und Land, der am 15. November im Argen-Boten veröffentlicht wird. Tagszuvor wird bereits die rote Fahne am Wangener Rathaus gehisst. Rot als „Zeichen der Umwälzung und der Übergangszeit“.
Die traurige Bilanz: Mehr als 170 Gefallene
Die Wangener Bilanz des Ersten Weltkriegs liest sich wenig erfreulich. Hiesige Chroniken sprechen am Ende von mehr als 170 Gefallenen, die Stadt hatte bei Kriegsausbruch rund 5000 Einwohner. Die Chronik des früheren Wangener Schulrektors Erhard Weinmann schildert 127 Einzelschicksale und zeigt auf einem weiteren Blatt die Porträtbilder von 123 gefallenen Männern aus Wangen. Rainer Jensch spricht in der aktuellen Stadtchronik von einer „demographischen Katastrophe“, bedeutete der Verlust von Familienangehörigen im besten Alter doch oft auch den familiären Ruin, der die Hinterbliebenen an den Bettelstab brachte.
Die Folgen dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“(Jensch) wirken auch in Wangen noch bis in die Gegenwart. Straßen, Wege oder ganze Siedlungen sind nach damaligen Persönlichkeiten (Immelmann, Richthofen, Erzberger) oder Schlachten (Verdun) benannt. Das Erinnerungsmal an die Gefallenen und Opfer der Weltkriege steht auf dem Alten Gottesacker. Es erinnert auch an die Sinnlosigkeit des Ersten Weltkriegs, der vor hundert Jahren zu Ende ging.