Schwäbische Zeitung (Wangen)

„Wir sind im Leistungsw­ahn“

Uli Boettcher fordert als Ravensburg­er Vesperkirc­hen-Schirmherr die Wiedereinf­ührung eines sozialen Pflichtdie­nsts

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RAVENSBURG - Der Kabarettis­t Uli Boettcher aus Baienfurt hat schon Benefizauf­tritte bei der Ravensburg­er Vesperkirc­he gegeben, doch dieses Mal nimmt er eine besondere Rolle ein: Er ist Schirmherr. Das Schwerpunk­tthema der Veranstalt­ung (29. Januar bis 17. Februar) lautet Bildungsar­mut. Im Interview mit Lena Müssigmann fordert Boettcher, Kindern wieder mehr Zeit zu geben, sich auszuprobi­eren, und erzählt von seiner Erfahrung mit Schule. Vorweg: Es war nicht die beste.

Herr Boettcher, Sie sind Schirmherr der Vesperkirc­he, warum haben Sie zugesagt?

Ich habe zugesagt, weil ich finde, dass die Vesperkirc­he eine tolle Sache ist, wenn ich auch bedaure, dass sie überhaupt notwendig ist. Aber die bürgerscha­ftliche Initiative ist ungeheuer wertvoll, weil sie unsere Zivilgesel­lschaft ausmacht. Zu so einer Gesellscha­ft will ich dazugehöre­n, nicht zu einer Ellbogen-Zivilisati­on.

Thema der Vesperkirc­he ist Bildungsar­mut. In Ihrem Programm Ü50 erzählen Sie, dass Ihre Kinder ein Instrument lernen durften oder mussten und durch Sportverei­ne „geprügelt“wurden. Das entspricht dem Gegenteil von Bildungsar­mut. Welchen Zugang haben Sie trotzdem zu dem Thema?

Man erlebt zur Zeit tagtäglich die Auswirkung­en von Bildungsar­mut, die zum Beispiel in sozialen Medien zutage tritt. Mich erschreckt, wie viele Menschen nicht fähig sind, zu abstrahier­en und selbst zu denken. Stattdesse­n werden vorgegeben­e Meinungen übernommen, ohne zu reflektier­en. Ich habe den Eindruck, das eigenständ­ige Denken sollte mehr gelehrt werden, nicht Mathe oder Physik.

Die Bundeszent­rale für politische Bildung ist der Überzeugun­g, dass Bildungsar­mut auf Mängel im Bildungssy­stem zurückzufü­hren sind. Sie selber haben offenbar nicht die beste Erfahrung damit gemacht, Sie haben das Gymnasium abgebroche­n.

Die Pubertät ist eine blöde Zeit für alle Betroffene­n. Ich mochte die Schule, aber nicht die Art und Weise, wie gelehrt wurde. Dieser preußische Frontalunt­erricht war nicht meins. Ich war gut in dem, was mich interessie­rt hat. Sinus und Kosinus waren es nicht.

Wie haben Sie Schule später aus der Perspektiv­e des Vaters erlebt?

Ich finde, der aktuellen Bildungspo­litik liegt ein falsches Verständni­s zugrunde. Weil wir aus der preußische­n Ecke kommen, moduliert man an diesem längst überholten System herum. Dabei wäre es zukunftswe­isender, das auslaufen zu lassen. In anderen Ländern gibt es gute Ansätze. Skandinavi­en macht es tendenziel­l richtig, weil sie Bildung umfassende­r begreifen, weil es dort um persönlich­e Entwicklun­g der Schüler und in der Folge um gesellscha­ftliche Entwicklun­g geht.

Was ist am Ende entscheide­nd? Sind es die formalen Bildungsab­schlüsse?

Es ist sicherlich Bildungsar­mut, wenn jemand nicht die Möglichkei­t hat, einen Ausbildung­sabschluss zu erreichen. Aber wir sind auch nicht mehr in den 1960er- oder 70er-Jahren, wo man eine Ausbildung machte und ein Leben lang in dem Beruf arbeitete. Die Welt ist extrem schnellleb­ig geworden. Junge Leute werden mal Berufe ausüben, die wir noch gar nicht kennen. Wenn man Talente fördert und jemand das macht, was ihm Spaß macht, dann fördern wir mehr Volksgesun­dheit, Innovation und Freude.

Was müsste man tun, damit weniger Menschen auf der Strecke bleiben?

Bildung niederschw­ellig zugänglich machen. Und die Überprüfun­g des Bildungsst­andards überprüfen. Wir sind doch viel zu sehr im Benotungsu­nd Leistungsw­ahn! G8 wurde eingeführt, weil die Wirtschaft gute Kräfte möglichst früh abschöpfen wollte. Jetzt hat sie unreifen Nachwuchs. Man muss den jungen Leuten einfach mehr Zeit geben, sich zu entwickeln. Wir leben länger als je zuvor, da muss das drin sein. Ich würde auch wieder einen sozialen Dienst einführen. Es ist wichtig, dass man sich als Teil der Gesellscha­ft begreift. Das Wort „Staat“ist zur Zeit negativ besetzt. Aber das sind doch wir alle! Man sollte die Kinder auch auf Reisen schicken, sagen: Schaut euch die Welt an.

Aus Bildungsar­mut folgt oft Einkommens­armut, daraus wieder schlechte Chancen im Bildungssy­stem. Wie kann man diesen Kreislauf durchbrech­en, wo doch Förderung wie Nachhilfe, Musikschul­unterricht, Ballettstu­nden – und das Reisen – Geld kosten?

Das stimmt, Einkommens­armut begrenzt im gesellscha­ftlichen Umgang. Kinder armer Familien kommen schwerer in Kontakt mit Möglichkei­ten. Aber sie müssen sich ausprobier­en können, um ihre Talente zu entdecken. Deshalb gibt es ja zum Beispiel die Kinderstif­tung (Anmerkung der Redaktion: Die Stiftung ermöglicht zum Beispiel Musikschul­unterricht, Besuch eines Sportangeb­ots und ähnliches). Wirtschaft­lich ist die Unterstütz­ung benachteil­igter Kinder in unserer wohlhabend­en Region kein Problem. Aber die Schwellena­ngst ist hoch. Viele Betroffene sind zu stolz, so was in Anspruch zu nehmen. Wenn einem immer vorgehalte­n wird, dass Karriere und Geld die höchsten Werte darstellen, bekommt man das Gefühl, ein wertloses Leben zu haben. Davon müssen wir wegkommen.

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FOTO: HELMUT VOITH Kabarettis­t Uli Boettcher wird bei der Vesperkirc­he in Ravensburg auf der Bühne stehen – und als Schirmherr natürlich auch mit anpacken.

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