Wider die Wegwerfgesellschaft
Minimalismus heißt der neue Trend – Mit 100 Dingen auskommen
FRANKFURT (epd) - Im Netz und auf dem Buchmarkt wimmelt es von Anleitungen zum Minimalismus, einem Lebensstil, bei dem Menschen sich von überflüssigen Gegenständen trennen und sich auf das Wesentliche beschränken wollen. „Minimalismus macht glücklich“, sagen sie.
Wenn Marcell Steinhoff morgens aufsteht, muss er nicht lange über sein Büro-Outfit grübeln: Er besitzt noch genau zwei Hosen und drei Hemden – und alle passen zueinander. In seinem – einzigen –Schrank gibt es Geschirr und Besteck für vier Personen: „Wenn doch mehr Gäste kommen, organisiere ich eben zusätzliches“, sagt der Dortmunder Bürokaufmann.
Und auch sonst beschränkt er sich auf das Nötigste: Eine Couch und ein Fernseher. Mehr gibt es im Wohnzimmer nicht. Im Arbeitszimmer steht ein Regal mit Ordnern, weil er manchmal von Zuhause aus arbeitet. Seine private Lektüre hat er wie so vieles aussortiert vor drei Jahren, tauscht stattdessen Bücher im öffentlichen Bücherschrank in der Nachbarschaft. „Weniger Dinge zu haben, spart wahnsinnig viel Zeit“, sagt der 34-Jährige. „Ich muss nicht aufräumen, kaum putzen und mich nicht zwischen Dingen entscheiden.“Das schafft Freiräume für anderes und: „Das macht glücklich.“
Steinhoff ist Minimalist. Ein Lebensstil, der heute viele interessiert. Sich von Überflüssigem befreien. Nur das besitzen, was wirklich wichtig ist. Anders konsumieren. Im Netz und auf dem Buchmarkt wimmelt es von Anleitungen und persönlichen Wegen zum Mehr durch weniger. Mit der „Party Packing Methode“hat zum Beispiel Steinhoff ausgemistet: Er packte seinen ganzen Besitz in Umzugskartons. Was er nach einem halben Jahr nicht hervorgeholt hatte, spendete er.
Andere überlegen gezielt, was sie wirklich mögen und warum und behalten nur diese Dinge. Oder beginnen in einem einzelnen Bereich: dem Kleiderschrank oder ihrem Medienkonsum. Wie viele Anhänger dieser Lebensstil hat, ist nicht erforscht. In den sozialen Medien ist das Thema sehr präsent: Unter dem Hashtag „Minimalismus“finden sich bei Instagram mehr als 80 000 Beiträge, unter dem englischen „minimalism“mehr als zwölf Millionen. Im Netz stieß vor allem die 100-Dinge-Liste des gut vernetzten US-Bloggers David Michael Bruno einen Minimalismus-Hype an: Mit 100 Dingen auskommen können.
Ein Mittelschichten-Phänomen
„Geredet wird viel über Minimalismus“, sagt Kai-Uwe Hellman, Konsumforscher an der TU Berlin. „Es ist heute eben angesagt, gegen zu viel Konsum zu sein und sich nicht an der Wegwerfgesellschaft zu beteiligen.“Dazu passe das minimalistische Denkmuster, das sehr weitreichend sei. „Nur wenige sind allerdings so konsequent, dass sie ihre Lebensweise ändern“, glaubt der Soziologe. „Wer minimalistische Fernsehgewohnheiten annimmt und darin den Geist des Minimalismus sieht, lebt ja widersprüchlich.“Genau wie jemand, der nur ein Kleidungsstück besitze, aber eine Fernreise buche.
Hellmann bezweifelt daher, dass Minimalismus jemals mehr als 15 Prozent der Bevölkerung erreichen kann. Er glaubt auch nicht, dass er eine bleibende Erscheinung ist. „Es ist ein Mittelschichtsphänomen aus einem akademischen kinderlosen Milieu“, sagt der Professor. „Wer wirklich arm ist, reduziert sich nicht, um bewusste Weniger-Erfahrungen zu machen.“Vor allem seien die meisten Menschen zufrieden mit ihren Konsummustern.
Diese zerstören allerdings bekanntermaßen die eigenen Lebensgrundlagen und die der Nachkommen. Minimalisten übten bereits heute das ein, „was in einer postfossilen zukünftigen Gesellschaft alle zu lernen haben: ressourcenleichter zu leben“, sagt daher Dana Giesecke, Leiterin der Berliner Stiftung Futurzwei, die sich für eine „zukunftsfähige, enkeltaugliche Gesellschaft“einsetzt.
Daniel Siewert aus Gelsenkirchen sieht im Minimalismus vor allem einen Gewinn durch gewonnene Lebenszeit. Weil er nur das Wesentliche einkauft, brauche er außerdem deutlich weniger Geld, sagt der Autor, der seit 2011 minimalistisch lebt. Mit dem Arbeitseinkommen von etwa 20 Wochenstunden kommt er aus. „Dafür habe ich Zeit, in meiner Nachbarschaft Dinge zu reparieren und andere dabei zu unterstützen, bewusst nachhaltig einzukaufen und gut zu kochen.“
Das reduziere wieder überflüssigen Konsum, sagt Siewert, der einen monatlichen Minimalismus-Stammtisch in Essen ins Leben gerufen hat und zum Thema bloggt. „Viele Menschen haben einen Konsumschluckauf und sind auf der Suche nach neuen Wegen.“