Ein alter Zopf wird abgeschnitten
Kinofilm „Astrid“erzählt von der schwierigen Jugend der schwedischen Schriftstellerin
Astrid tanzt, ihre Zöpfe fliegen. Da schauen die Nachbarn düster, in diesem kleinen schwedischen Dorf Vimmerby – tanzen, ein junges Mädchen, allein? Aus dem tanzenden Mädchen wird einmal die Schriftstellerin Astrid Lindgren, die Schöpferin von Pippi Langstrumpf, von Ronja Räubertochter, von Michel aus Lönneberga. Doch dass ihre Biografie in ihrer Jugend eine dramatische Wendung nahm, wussten viele ihrer alten und jungen Leserinnen und Leser nicht.
Astrid Ericsson wächst in einem protestantischen Pfarrhaus auf, nach strengen Regeln, aber auch liebevoll und mit einem Sinn für Freiheit und Bildung ausgestattet. Selbstbewusst stellt sie sich als 18-Jährige der Lokalzeitung vor; sie wird freie Mitarbeiterin, hat Talent zum Schreiben. Und schneidet sich schon bald ihre Kinderzöpfe ab, ist die Erste im Ort mit frechem Kurzhaarschnitt. Wieder gucken die Nachbarn düster. Wie kann sie nur?
Unehelich schwanger
Doch dann die – nach damaligen Maßstäben, es sind die frühen 1920er-Jahre – Katastrophe. Chefredakteur Reinhold Blomberg verliebt sich in sie, sie wird schwanger. Schlimmer noch: Sie lehnt ab, den Mann zu heiraten, der bereits mehrere Kinder hat. Sie bringt ihr Kind in Dänemark zur Welt, um ihren Eltern die „Schande“zu ersparen, gibt den Säugling an eine Ziehmutter und schlägt sich allein durchs Leben. Als die Pflegemutter erkrankt, muss sie den kleinen Lasse, drei Jahre alt, wieder zu sich nehmen.
Ein klassisches Biopic also, das sich auf die frühen Jahre der Schriftstellerin konzentriert – „Becoming Astrid“(„Astrid werden“) heißt der Film in der englischen Fassung. Und er deutet mehr als an, dass diese biografischen Wendungen wesentlich zu ihrem Menschenbild beitragen, letztlich auch zu ihrem literarischen Universum, das sie einmal schaffen wird. Hier werden die Bilder von Kindern angelegt, die selbstbewusst sind, ja frech, erfindungsreich, mutig, witzig.
Regie führt die Dänin Pernille Fischer Christensen („Eine Familie“), die das Drehbuch mit ihrem Mann, dem bekannten Autor Kim Fupz Aakeson, geschrieben hat. Gediegen in Szene gesetzt ist es konventionell, in Form einer großen Rückblende aus der Perspektiven der alten Astrid Lindgren, mit viel Wärme. Der Film hat für alle Figuren großes Verständnis, sogar der Chefredakteur, der seine junge Angestellte schwängert, ist hier kein ganz schlechter Mensch – heute wäre er ein Fall für #MeToo.
Für die Hauptrolle hat Pernille Fischer Christensen ein echtes Talent entdeckt: die junge Alba August, Tochter des „Geisterhaus“-Regisseurs Bille August. Als Astrid ist sie wild und nachdenklich zugleich, intelligent und unabhängig, gleichzeitig auch gefangen in ihren Schuldgefühlen ihrem Kind gegenüber, das sie mehrere Jahre nur selten sieht und von dem sie sich entfremdet.
Als Erwachsene hat Astrid Lindgren diese Episode ihres Lebens nicht zum Thema gemacht, sie vielleicht auch verdrängt, obwohl sie eine wichtige Inspiration zum Schreiben war. Ihre Tochter Karin Nyman, die auch ihr Erbe verwaltet, hat sich von dem Film distanziert; es sei zu viel darin erfunden. „Meine Mutter hätte laut ,Nein‘ zu diesem Film gesagt“, erklärte sie kürzlich einer schwedischen Zeitung. Dabei kratzt der Film kein bisschen am Mythos der Astrid Lindgren. Das Denkmal kann stehen bleiben. Es trägt nur ein paar menschliche Züge mehr.
„Astrid“. Regie: Pernille Fischer Christensen. Mit Alba August, Trine Dyrholm, Henrik Rafaelsen. Schweden/Dänemark 2018. 123 Minuten. FSK ab 6.