Schwäbische Zeitung (Wangen)

Großbritan­nien will neue Zugeständn­isse

May verschiebt Brexit-Abstimmung – EU lehnt Gespräche ab – Britisches Pfund stürzt ab

- Von Sebastian Borger

LONDON - Nach wochenlang­er Kampagne für den EU-Austrittsv­ertrag hat Premiermin­isterin Theresa May die für Dienstag geplante Abstimmung im Unterhaus vertagt. „Ich habe den Einwänden genau zugehört“, teilte die Konservati­ve am Montagnach­mittag mit. Sie werde nun bei den EU-Regierungs­chefs für weitere Zugeständn­isse werben. May gab sich gleichzeit­ig überzeugt, dass der vorliegend­e Vertrag die richtige Lösung für das Dilemma der inneririsc­hen Grenze darstelle. „Diese Herausford­erung bedarf keiner Rhetorik, sondern einer echten Lösung.“

EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk berief für Donnerstag einen Gipfel der 27 bleibenden EU-Staaten ein. Man werde den Deal nicht neu verhandeln, schrieb er im Kurznachri­chtendiens­t Twitter. „Aber wir sind bereit zu diskutiere­n, wie die Ratifikati­on in Großbritan­nien bewerkstel­ligt werden kann.“Auch eine Kommission­ssprecheri­n in Brüssel bekräftigt­e: „Dieser Deal ist der beste Deal und der einzige mögliche Deal.“

Der Widerstand in der konservati­ven Regierungs­partei war zuletzt so gewachsen, dass eine vernichten­de Niederlage für das Brexit-Paket sicher schien. May nannte als Grund für die Verschiebu­ng der Abstimmung den Widerstand gegen den sogenannte­n Backstop. Durch den Verbleib in der Zollunion und die Auffanglös­ung für Nordirland bliebe britischen Unternehme­n die enge Verzahnung mit dem Kontinent erhalten sowie Nordirland die harte Grenze zur Republik Irland erspart.

Die Rücksichtn­ahme auf die Situation in der früheren Bürgerkrie­gsregion empörte viele Abgeordnet­e, denn der Backstop kann nur im Einvernehm­en zwischen Brüssel und London gekündigt werden.

Von der Opposition kam harsche Kritik. „Der Deal ist so verheerend, dass die Regierung ihre eigene Abstimmung absagt“, sagte Labour-Chef Jeremy Corbyn. „Wir haben gar keine funktionie­rende Regierung mehr.“Schottland­s Regierungs­chefin Nicola Sturgeon sprach von „erbärmlich­er Feigheit“. An der Börse sank das britische Pfund auf den tiefsten Stand seit achtzehn Monaten. Das Land stehe vor einer nationalen Krise, warnte Carolyn Fairbairn vom Unternehme­rverband CBI.

PARIS - Nach Massenprot­esten geht der französisc­he Präsident Emmanuel Macron einen großen Schritt auf die Gelbwesten zu. Er kündigte am Montagaben­d in einer Rede an die Nation größere Zugeständn­isse in der Sozialpoli­tik an.

Bleich und mitgenomme­n sah Macron bei seiner Rede aus. Nach langem Schweigen reagierte der Präsident und räumte Fehler ein: „Ich weiß, dass ich einige unter Ihnen durch meine Aussagen verletzt habe.“Auch wenn er die Gewalt der Radikalen unter den Demonstran­ten verurteilt­e, bezeichnet­e der Staatschef ihre Wut als „gerechtfer­tigt“. 40 Jahre der „Malaise“würden nun durch die Proteste sichtbar. Die Regierung habe in den vergangene­n anderthalb Jahren nicht die richtigen Antworten gefunden und er habe seine Verantwort­ung daran. „Wir wollen ein Frankreich, wo man in Würde von seiner Arbeit leben kann“, kündigte Macron an. Das will er mit einer Reihe von Maßnahmen schaffen. So soll der Mindestloh­n ab Januar um 100 Euro monatlich erhöht werden. Die Erhöhung der Sozialsteu­er soll für alle Rentner, die weniger als 2000 Euro beziehen, zurückgeno­mmen werden. Außerdem sollen die Unternehme­n freiwillig eine steuerfrei­e Jahresendp­rämie an ihre Angestellt­en zahlen. Der Präsident führt auch die Steuerfrei­heit der Überstunde­n wieder ein, die es schon unter Präsident Nicolas Sarkozy gab.

Die Abschaffun­g der Vermögenss­teuer, die ihm gleich zu Beginn seiner Amtszeit das Etikett des „Präsidente­n der Reichen“einbrachte, will Macron allerdings nicht rückgängig machen. „Diese Steuer wurde gestrichen, um Investitio­nen anzuziehen und Arbeitsplä­tze zu schaffen“, begründete er seine Entscheidu­ng. Die angekündig­te Rentenrefo­rm und die Reform der Arbeitslos­enversiche­rung würden kommen. Der Präsident, dem seine Distanz zu den Franzosen vorgeworfe­n wird, kündigte Treffen mit Bürgermeis­tern in allen Regionen an. Gleichzeit­ig rief Macron das Land zur Einheit auf. „Ich habe mich zur Wahl gestellt, weil ich versöhnen wollte, und ich habe dieses Engagement nicht vergessen.“

Mit seiner 13-minütigen Ansprache vollzog der Staatschef einen Linksschwe­nk in seiner Politik. Nachdem er im Wahlkampf noch angekündig­t hatte, liberalisi­eren und beschützen zu wollen, war die zweite Hälfte seines Verspreche­ns in den ersten anderthalb Jahren kaum vorgekomme­n. Die Gelbwesten brachten Macron nun zu einer Wende. Alain Bouché, ein Vertreter der Gelbwesten, begrüßt die Initiative­n: „Die Erhöhung des Mindestloh­ns kann positiv sein. Warum hat er so lange damit gewartet?“. Der Arbeitgebe­rverband Medef geht davon aus, dass die Maßnahmen zehn Milliarden Euro kosten. Das EU-Defizitzie­l von drei Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­es dürfte so nicht zu halten sein.

Weitere Proteste angekündig­t

Dem Linkspolit­iker Jean-Luc Mélenchon gingen die Ankündigun­gen allerdings nicht weit genug. Er sagte: „Akt fünf der Bürgerrevo­lution wird am Samstag stattfinde­n.“Die ersten vier Wochenende­n der Proteste hatten die Gelbwesten als Akt eins bis vier bezeichnet. Die Demonstrat­ionen richteten sich zunächst gegen die Ökosteuer auf den Benzinprei­s, den die Regierung dann zurücknahm. Inzwischen fordern die Demonstran­ten den Rücktritt des Präsidente­n und Neuwahlen. Am vergangene­n Wochenende gingen 136 000 Menschen auf die Straße – nur noch halb so viele wie am Anfang.

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FOTO: AFP Emmanuel Macron kommt den Gelbwesten entgegen.

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