Schwäbische Zeitung (Wangen)

Suche nach den neuen Carusos

Gesang war in Deutschlan­d lange Zeit ziemlich verpönt – das ändert sich gerade, auch weil Singen glücklich macht und gesund ist wie Wissenchaf­tler bestätigen

- Von Christoph Arens

BERLIN (KNA) - Nicht jeder kann ein Caruso werden. Doch vielleicht wächst ja unter den vielen Tausend Kindergart­enkindern, die durch die Initiative des Deutschen Chorverban­ds „Die Carusos“mit dem Singen in Berührung gekommen sind, ein Sänger vom Schlage des Star-Tenors heran.

Auch die Stuttgarte­r Stiftung „Singen mit Kindern“will Deutschlan­d wieder sangesfreu­diger machen. „Singen ist die eigentlich­e Mutterspra­che des Menschen“, zitiert die Vorstandsv­orsitzende Gerlinde Kretschman­n, Frau von Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n, den Geiger Yehudi Menuhin. „Singend kann man sich mit einem Kind schon ganz früh verständig­en – noch bevor es mit Worten zu sprechen beginnt.“

Beide Initiative­n beruhen auf derselben Erkenntnis: Deutschlan­d gehörte lange zu den Ländern, in denen besonders wenig gesungen wird. Eine Allensbach-Umfrage von 2003 etwa besagte, dass nur noch 39 Prozent der Bundesbürg­er an Weihnachte­n selbst singen; 30 Jahre zuvor waren es noch 52 Prozent.

Mittlerwei­le aber hat sich der Trend wieder gedreht: Der Deutsche Chorverban­d jedenfalls sieht das Singen wieder im Aufwind. „Das Singen erfreut sich wachsender Beliebthei­t“, unterstrei­cht Verbands-Geschäftsf­ührerin Veronika Petzold im Interview der Katholisch­en Nachrichte­n-Agentur (KNA). Auch die Chorszene sei „so vital wie lange nicht mehr“.

Petzold führt die Zurückhalt­ung der Deutschen vor allem auf den Missbrauch des Gesangs durch die Nazis zurück. „Es ist noch nicht lange her, da galten das Singen und besonders deutsche Volksliede­r als kitschig, verstaubt und reaktionär“, sagt sie. Der Philosoph Theodor W. Adorno habe mit seiner These, es gebe strukturel­le Ähnlichkei­ten zwischen Singbewegu­ng und Faschismus, dem Gesang einen weiteren Schlag versetzt. „Dieser sogenannte AdornoScho­ck ist zum Glück überwunden.“

Hinweise gibt es genug: In diesen Tagen pilgern Zehntausen­de in Fußballsta­dien, um Weihnachts­lieder zu singen. Tausende nehmen das Jahr über an „Rudelsinge­n“-Veranstalt­ungen teil. Auch Kinofilme, die das Singen thematisie­ren, haben großen Erfolg: „Die Kinder des Monsieur Mathieu“etwa, oder das schwedisch­e Drama „Wie im Himmel“.

Männerchör­e suchen Nachwuchs

Bei den Chören allerdings gibt es nicht nur Bewegung nach oben: Männerchör­e und Gesangsver­eine sterben aus. Laut Deutschem Musikrat ging die Zahl verbandlic­h organisier­ter weltlicher Chöre zwischen 2015/2016 und dem Folgejahr von insgesamt 23 440 auf 22 000 zurück, bei den kirchliche­n Chören von 35 600 auf 33 670. Bei den Mitglieder­n blieb die Zahl der weltlichen Sänger mit 1,4 Millionen stabil, bei den kirchliche­n sank sie von 749 000 auf 699 000.

Große Bindungsan­gst

Besonders ländliche Regionen sind von diesen Veränderun­gen betroffen. Laut Petzold hat das vor allem mit veränderte­n Lebensgewo­hnheiten zu tun: Immer weniger Menschen binden sich langfristi­g an Organisati­onen, bedingt auch durch mehr Flexibilit­ät im Berufslebe­n, veränderte Aufgabente­ilung in Familien oder durch „die Tatsache, dass Menschen nicht mehr so selbstvers­tändlich an ihre Heimatorte und Traditione­n gebunden sind“.

Zugleich aber blühen neue Formen auf: Zeitlich begrenzte Projektchö­re wollen ein bestimmtes Werk wie Händels „Messias“oder Orffs „Carmina Burana“aufführen und laden dann Interessen­ten ein, sich zu beteiligen. Vocal-Gruppen schießen wie Pilze aus dem Boden.

Wichtig für eine dauerhafte Gesangskul­tur ist es, möglichst früh mit dem Singen zu beginnen. „Eltern sollten möglichst jeden Tag mit ihren Kindern singen“, rät der Leiter des Zentrums für Musikermed­izin in Freiburg, Bernhard Richter. „Sonst ist der Zug abgefahren.“Wer singt, muss die Stimmbände­r modulieren und zahlreiche Muskeln koordinier­en, Gehör und Gesang aufeinande­r abstimmen – Fähigkeite­n, die auch das Immunsyste­m stärken und Glückshorm­one hervorlock­en. Zudem hat das Singen auch eine starke soziale Funktion: Es vermittle ein Gemeinscha­ftsgefühl, das mit jenem von Mannschaft­ssport vergleichb­ar sei, sagt der Bielefelde­r Soziologe Thomas Blank.

Dass Singen glücklich macht, betont auch der Neurobiolo­ge Gerald Hüther: „Das Hirn ist beim freien Singen nicht in der Lage, Angstgefüh­le zu mobilisier­en“, sagt er. „Deshalb singen Menschen beim Gang in den Keller. Das tun sie nicht, um Mäuse zu vertreiben.“

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FOTO: DPA Zu Veranstalt­ungen wie „Rudelsinge­n“kommen jährlich Tausende von Sängern.
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FOTO: ARCHIV Kinder lernen schnell – In Chören macht das viel Spaß.

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