Als Viktor Ostroumow in St. Martin die Orgel spielte
Erinnerungen von Roland Fischer an den Maler zur deutschen und russischen Weihnachtszeit 1949
WANGEN - Es ist genau 70 Jahre her. Und doch ist es für Roland Fischer, als wenn es erst gestern gewesen wäre. Jenes Erlebnis vom Dreikönigstag 1949, das für den heute 81-Jährigen das wohl Einprägsamste an den nach dem Krieg einige Jahre in Wangen lebenden russischen Maler Viktor Ostroumow ist und bleiben wird.
Es war im Frühjahr 1945, als der 1904 in der russischen Stadt Kaluga geborene Viktor Ostroumow aus Karlsbad kommend nach Wangen gebracht wurde. Ins Melderegister der Stadt wurde er als „ledig, orthodox, staatenlos“aufgenommen. Bis zum Juli wohnte er bei Familie Fießinger in Ettensweiler, im Juli wurde er von Karl Fischer in sein Haus am Galgenbühl aufgenommen, wo er ein Zimmer bezog.
Roland Fischer, damals ein Knabe von acht Jahren, erinnert sich noch genau, wie Ostroumow ankam: „Er wurde auf einem Leiterwagen mit seinen wenigen Habseligkeiten, darunter bemalte und unbemalte Leinwände und eine Staffelei, gebracht. Er war bettelarm.“Das Auftreten des Russen nennt Fischer „freundlich zu seinen Gastgebern, sonst aber scheu und in seinen Reaktionen oft unverständlich“.
Weitere russische Künstler
Im Hause Fischer wohnte Viktor Ostroumow mit Familienanschluss. Er unterrichtete Karl Fischer in der Technik der Ölmalerei. „Und ich war sein Malknabe“, sagt Roland Fischer schmunzelnd. An den Abenden kam oftmals Besuch. Denn mit Ostroumow waren auch noch andere russische Maler als Emigranten nach Wangen gekommen: Alexey von Schlippe, Anatole Gorohovetz und Vladimir Lebedev. So fand sich die „kleine russische Künstlerkolonie“am Galgenbühl zusammen. Hier wurde lebhaft über Kunst und Politik diskutiert und über das Leben philosophiert.
Natürlich wurde auch zusammen Weihnachten gefeiert. Zuerst das deutsche Fest, dann das russisch-orthodoxe am 7. Januar. Am „russischen Heiligen Abend 1949“, also am Dreikönigsfest, ging man gemeinsam zum Gottesdienst in die St. Martinskirche. Es lag viel Schnee und es war kalt. Die Russen hatten sich in ihre dicken Pelzjacken gehüllt, die sie in der Wangener Zentrale der Nothilfeund Wiederaufbauverwaltung der Vereinten Nationen, kurz UNRRA genannt, erworben hatten.
Roland Fischer berichtet: „Wir reihten uns auf der rechten Seite des Kirchenschiffes ein. Die Kirchenbesucher schauten schon deshalb neugierig, weil es in Russland üblich ist, stehend dem Gottesdienst zu folgen.“Was dann passierte, hört sich wie ein schön erfundenes Märchen an: Ostroumow stand plötzlich auf, ging in Richtung Empore und stieg die Treppe hinauf. „Ich habe noch immer im Ohr, wie sich seine schweren Stiefel mit den nagelbeschlagenen Sohlen bei jedem Schritt auf dem steinernen Fußboden anhörten. Lehrer Welte, der bislang die Orgel gespielt hatte, wurde kurzerhand zur Seite genommen. Viktor, der in Moskau neben Malerei auch Musik studierte, setzte sich statt seiner auf die Bank und fing an zu spielen: ‚Toccata und Fuge in D minor‘ von Johann Sebastian Bach“, erinnert sich Fischer.
Die Orgel habe geradezu unter dem kräftigen Anschlag des Russen gestöhnt, sagt Fischer und ergänzt fragend: „Wann hatte das Instrument zuvor auch schon einmal einen solchen Bach gehört?“Weiter erzählt Roland Fischer: „Es herrschte Totenstille. Bis sich Stadtpfarrer Dr. Stegmann umdrehte, hinauf zur Orgel schaute und sich mit verschränkten Armen tief verneigte. Erst zaghaft, dann immer stärker wurde anschließend in den Bankreihen applaudiert.“
„Jetzt ist Weihnachten“habe Ostroumow gesagt und sei wieder zu seinem Platz zurückgekehrt. Und der junge Fischer? „Ich war unsagbar stolz auf unseren Gast“, sagt er heute. Er freut sich noch immer darüber, „dass diese Geschichte für lange Zeit Stadtgespräch in Wangen blieb.“