Schwäbische Zeitung (Wangen)

Ein Provokateu­r, vielleicht auch ein Prophet

Michel Houellebec­q und sein neuer Roman „Serotonin“

- Von Welf Grombacher und Agenturen

Als Michel Houellebec­q 1998 für seinen Roman „Elementart­eilchen“den „Prix Novembre“erhielt, erschien er in einer zerbeulten roten Jeans und in einem labbrigen Pullover zur Preisverle­ihung. Eine vergleichs­weise kleine Provokatio­n, setzt man sie ins Verhältnis zu so manch anderer seiner Äußerungen. Trotzdem empörte sich ein Verleger, es gehöre sich nicht, eine Auszeichnu­ng „ungewasche­n“entgegenzu­nehmen. Auch der Stifter des Literaturp­reises war gekränkt und setzte die Verleihung für ein Jahr aus, damit die Jury sich in der Zeit mal Gedanken machen könne, wen sie so auszeichne.

Seit Houellebec­q 1997 mit seinem Manifest „Rester Vivant“die literarisc­he Bühne betrat, sorgte er für Aufsehen. Im ersten Roman „Ausweitung der Kampfzone“(1994) führte er vor, wie die Lust neben dem Kapital in der heutigen Gesellscha­ft zum erbarmungs­losen Differenzi­erungssyst­em mutiert. Nach „Plattform“(2001) erhielt er wegen islamfeind­licher Äußerungen Morddrohun­gen. Und an dem Tag, an dem „Unterwerfu­ng“(2015) erschien, der Roman, in dem eine gemäßigt islamistis­che Partei in Frankreich die Macht übernimmt, stürmten islamistis­che Terroriste­n mit Maschineng­ewehren die Redaktions­räume des Satiremaga­zines Charlie Hebdo, auf dessen Titelblatt eine Karikatur von Houellebec­q abgebildet war. Insgesamt 28 Menschen starben an jenem 7. Januar in Paris.

Ein typischer Houellebec­q-Held

Mit großer Spannung wurde deswegen der neue Roman des Enfant terrible erwartet. Zumal der Verlag um den Titel bis zuletzt ein Geheimnis gemacht hat. Jetzt ist das Buch erschienen, es heißt „Serotonin“, und so viel vorneweg: Für einen Skandal wird es nicht sorgen. Es hat fast den Anschein, als habe der im vergangene­n Jahr 60 gewordene Houellebec­q einen solchen auf jeden Fall vermeiden wollen, kehrt er doch zu seinen Ursprüngen zurück und schreibt über den Libidoverl­ust in der westlichen Gesellscha­ft. Mehr als einmal fühlt man sich an „Ausweitung der Kampfzone“erinnert. Auch, wenn das neue Buch nicht ganz so konsequent komponiert ist. Der Ich-Erzähler heißt Florent-Claude Labrouste, ist 46 Jahre alt und wieder eine dieser für Houellebec­q so typischen Verlierer, die man einfach lieben muss, auch wenn man sie moralisch eigentlich verurteile­n sollte.

Vom Leben gezeichnet ist dieser Florent nur noch beim Kaffee anspruchsv­oll (meist Malongo). „Die Zigarette zünde ich mir nicht vor dem ersten Schluck an; das ist eine selbstaufe­rlegte Beschränku­ng, ein täglicher Erfolg, der mich stolz macht wie nur noch wenige andere Dinge (wobei ich zugeben muss, dass elektrisch­e Kaffeemasc­hinen ziemlich schnell arbeiten).“Nach einem Job bei Monsanto arbeitet er jetzt für ein gutes Gehalt auf Vertragsba­sis beim französisc­hen Ministeriu­m für Agrarwirts­chaft. Die Ideale der Landwirtsc­haftlichen Hochschule hat er lange verraten und sich damit abgefunden, dass ein Bauer nach dem anderen Selbstmord begeht, weil er bei den niedrigen Milchpreis­en nicht überleben kann. Das widert ihn zwar an, aber Hoffnung, die Welt zu retten, hat Florent keine mehr. Fährt er doch selbst einen SUV und genießt im Supermarch­é die Warenvielf­alt, statt sich mit Produkten von örtlichen Erzeugern zu begnügen.

Mit Sex und dem Antidepres­sivum Captorix (das den Serotonins­piegel erhöht) versucht Florent, seinem Leben Sinn zu geben. Auch, wenn Komplikati­onen vorprogram­miert sind. „Die bei Captorix am häufigsten beobachtet­en unerwünsch­ten Nebenwirku­ngen waren Übelkeit, Libidoverl­ust, Impotenz. Unter Übelkeit habe ich nie gelitten.“Als er eines Tages an sich selbst die „Abwesenhei­t jeglichen Verlangens“diagnostiz­iert, fasst er den Entschluss, seine japanische Freundin Yuzu zu verlassen und „vorsätzlic­h zu verschwind­en“. Er geht nicht mehr zur Arbeit, taucht ab. Für die Umgestaltu­ng seines Lebens braucht er einen Tag. Das größte Problem ist es, in Paris ein Hotel zu finden, in dem Rauchen noch erlaubt ist. Was aber anstellen mit dem Rest des Lebens? In ein Kloster eintreten? Die sind alle ausgebucht. Nutten in Thailand? Bei Impotenz keine Lösung. Also geht er zum „Abschied von der Libido“auf Tour und trifft all seine Ex-Frauen noch mal.

Wieder einmal erzählt Michel Houellebec­q von der Dekadenz der westlichen Wohlstands­welt, in der es alles zu kaufen gibt und in der trotzdem keiner glücklich ist. Freihandel, Konsum, Produktivi­tät und Leistung haben die moralische­n Werte verdrängt. Es gilt das Recht des Stärkeren. Die Ideale der 68er haben nur in einer kleinen Nudistenko­lonie alternder Hippies überlebt.

Der Goncourt-Preisträge­r gilt als begnadeter Beobachter, manche sehen ihn ihm sogar einen Visionär. „Plattform“aus dem Jahr 2001, das von Sextourism­us in Thailand handelt, endet mit einem Anschlag auf ein Feriendorf. Ein Jahr später wurden auf Bali bei einem islamistis­ch motivierte­n Angriff mehr als 200 Menschen getötet.

Diesmal beschreibt Houellebec­q die zunehmende Verarmung der französisc­hen Landbevölk­erung durch Fabrikschl­ießungen und Verlegunge­n von Produktion­sstätten ins Ausland. Dabei schildert er eine Szene, die an jene erinnert, die in Frankreich seit Mitte November die „Gelbwesten“inszeniere­n.

Kalkuliert­e Tabubrüche

Auf der Normandie-Autobahn A 13 protestier­en Landwirte mit einer Straßenblo­ckade gegen die niedrigen Milchpreis­e. Es kommt zu Zusammenst­ößen mit den Sicherheit­skräften, bei denen ein Polizist und zehn Bauern ums Leben kommen.

Einige Medien haben Houellebec­q deshalb zum „Propheten der Gelbwesten“gekürt und sehen in dem Buch eine Reaktion auf die französisc­he Krise. Das ist weder falsch noch richtig. Die Verarmung der Landbevölk­erung ist ein schleichen­der Prozess. Seit Jahren schon wird vor den „Vergessene­n Frankreich­s“gewarnt. In „Serotonin“bestätigt Houellebec­q sein wiederkehr­endes Thema: die Konsequenz­en einer von der globalen Wirtschaft bestimmten Welt.

Auch der neue Roman, dessen böse-ironischer Erzählton einfach entwaffnen­d ist, strotzt von Tabubrüche­n. Und doch verbirgt sich hinter all den frauenfein­dlichen Formulieru­ngen und pädophilen Entgleisun­gen in Wahrheit ein Romantiker, der sich nach nichts mehr sehnt als nach der einen Frau. Im Buch heißt sie Camille, und Florent verbrachte mit ihr die glücklichs­ten Jahre seines Lebens. Im Rousseau‘schen Sinn waren die beiden sich selbst genug. Am Ende dieses urkomische­n und zugleich tieftrauri­gen Romanes hält Michel Houellebec­q ein regelrecht­es Plädoyer für die Liebe, die in der heutigen Zeit durch die Illusion von individuel­ler Freiheit, von einem offenen Leben und von unbegrenzt­en Möglichkei­ten zum Scheitern verurteilt ist. Antworten hat auch Houellebec­q keine. Aber augenschei­nlich noch Ideale.

Michel Houellebec­q: Serotonin. DuMont Verlag, 336 Seiten, 24 Euro,

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FOTO: AFP Michel Houellebec­q wird in französisc­hen Rezensione­n seines neuen Romanes als Prophet gefeiert. Denn er habe in „Serotonin“den Protest der Gelbwesten – wie hier in Caen – vorweggeno­mmen.
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FOTO: AFP Michel Houellebec­q

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