Idlib in Syrien wird zum Kaida-Emirat
Knapp drei Jahre ist es her, seitdem Kaida-Führer Ayman alZawahiri die dschihadistische Nusra-Front dazu ermuntert hatte, in der syrischen Provinz Idlib ein eigenes Emirat zu gründen. Syrien, verkündete der bin-Laden-Nachfolger in einer Audio-Botschaft, sei „die Hoffnung der muslimischen Gemeinschaft“– welche sich für die sogenannten Rechtschaffenen inzwischen erfüllt hat.
Die terroristischen Nusra-Milizen, die seit Anfang 2017 unter dem Namen Hayat Tahrir al-Scham (HTS) – zu Deutsch: Bündnis zur Befreiung der Levante – auftreten, beherrschen seit Ende letzter Woche die syrische Provinz Idlib und Teile der angrenzenden Provinz Hama. Mehr als vier Jahre hatten die von uigurischen und tschetschenischen Kampfgruppen unterstützten HTSMilizen auf dieses Ziel hingearbeitet, ihre islamistischen Kontrahenten vor die Wahl zwischen Kapitulation und anschließender Unterordnung oder Liquidierung gestellt.
Die von den afghanischen Taliban abgeschaute Strategie des syrischen Kaida-Ablegers war erfolgreich: Mit einer um die Jahreswende gestarteten Großoffensive zwangen die HTSMilizen auch die Nationale Befreiungsfront, ein Sammelbecken kleinerer islamistischer Milizen, in die Knie. Nach heftigen Verlusten auf dem Schlachtfeld musste die mit der Türkei verbundene Allianz eine Vereinbarung unterzeichnen. Sie garantiert das physische Überleben der Milizionäre, wenn sie sich im Gegenzug der von der HTS kontrollierten „Regierung der Errettung“unterstellen.
Ihre Herrschaft unterscheidet sich nur in Nuancen von der des „Islamischen Staats“. Frauen werden zur Vollverschleierung gezwungen und auf Plakatwänden als Reproduktionsorgane gepriesen. Demokratie verdammen die HTS-Propagandisten als Religion des Westens.
Keine humanitäre Hilfe mehr
Entsprechend brutal geht die Errettungsregierung gegen Andersdenkende vor. Hunderte sitzen in Gefängnissen, in denen Folter an der Tagesordnung ist. Für die gut zwei Millionen Einwohner in Idlib sind die Erfolge des HTS auch deshalb eine Katastrophe, weil die meisten internationalen Hilfsorganisationen es inzwischen ablehnen, eine Provinz zu versorgen, die von einer Terrororganisation kontrolliert wird.
Auf die offizielle Proklamation eines Emirates, das de facto längst besteht, hat die „Regierung der Errettung“bisher aus taktischen Gründen verzichtet. Tatsächlich hätten die etwa 25 000 HTS-Kämpfer Al Kaida den Treueeid geschworen und seien niemals von der Ideologie der Terrororganisation abgewichen, betont Hassan Hassan vom „Tahrir Institute for Middle East Policy“in Washington.
Die anhaltenden Erfolge des HTS im Nordwesten Syriens sind eng verknüpft mit dem Versagen der Türkei als regionale Ordnungsmacht. Erst im September hatte sich der türkische Präsident Recep Tayyib Erdogan gegenüber dem russischen Staatschef Wladimir Putin verpflichtet, gegen die HTS-Milizen vorzugehen. „Die Türkei bekommt das hin“, hatte der Türke in einem Gastbeitrag für die „New York Times“behauptet, in dem er seine Armee abermals als effektive Ordnungsmacht für NordSyrien lobpreiste.
In Wirklichkeit hätten die in der Region stationierten türkischen Streitkräfte während der HTS-Offensive „keinen Finger krumm gemacht“und den Dschihadisten das Feld überlassen, klagen Sprecher der geschlagenen Nationalen Befreiungsfront.