Hymer-Gruppe unter Druck
Wohnmobilbauer entsendet Manager nach Nordamerika
BAD WALDSEE (ank) - Die Erwin-Hymer-Gruppe (EHG) hat zwei Manager aus Europa nach Kanada geschickt, die dort interimsmäßig die Aufgaben der suspendierten Führungsriege der Nordamerika-Tochter des Wohnmobilbauers übernehmen. Großbritannien-Chef Rob Quine und der kaufmännische Leiter der EHG-Marke Bürstner, Thomas Martin, sollen am Montag bekannt gewordene Unregelmäßigkeiten aufklären, wie der oberschwäbische Konzern in einem Brief an die Mitarbeiter erklärte. In dem Schreiben, das der „Schwäbischen Zeitung“vorliegt, bekräftigt die EHG erneut, den Vorgang vollständig aufklären zu wollen. Wegen Unstimmigkeiten im Berichtswesen der Tochtergesellschaft mit Sitz im kanadischen Kitchener hat die EHG mehrere Manager suspendiert. Der US-Konzern Thor, der die EHG ursprünglich für 2,1 Milliarden Euro übernehmen wollte, teilte daraufhin mit, den Deal nachverhandeln zu wollen.
BAD WALDSEE/RAVENSBURG - Der Reisemobilbauer Erwin-HymerGruppe (EHG) hat zwei Manager aus Europa nach Kanada geschickt, die dort die Geschäfte der suspendierten Führungsriege der Nordamerikatochter (EHG NA) offenbar vorübergehend übernehmen sollen. Das teilte das Familienunternehmen aus Bad Waldsee (Kreis Ravensburg) in einem Brief an die Belegschaft mit. „Als Sofortmaßnahme hat die ErwinHymer-Gruppe Rob Quine sowie Thomas Martin damit beauftragt, den laufenden Betrieb der EHG NA und die externe Untersuchung zu unterstützen“, hieß es in dem Schreiben, das der „Schwäbischen Zeitung“vorliegt. Quine führt die Großbritannien-Aktivitäten der EHG und war davor Chef der Explorer Group, die Anfang 2017 übernommen wurde. Martin ist kaufmännischer Leiter der EHG-Marke Bürstner. Beide sind, das bestätigte EHG-Sprecher Stefan von Terzi, inzwischen in Kitchener, dem Sitz der Nordamerika-Tochter in der kanadischen Provinz Ontario.
In dem Brief, der von EHG-Chef Martin Brandt und Finanzchef Stefan Junker unterzeichnet ist, hat die Führungsspitze des Traditionskonzerns die Mitarbeiter zudem über die aktuellen Entwicklungen in der Unternehmensgruppe informiert. „Erste Untersuchungen haben Unregelmäßigkeiten im Berichtswesen des Unternehmens ergeben. Daraufhin haben wir ein umfassendes Audit durch externe Wirtschaftsprüfer eingeleitet. Diese Untersuchungen dauern noch an. Uns ist es ein wichtiges Anliegen, den Sachverhalt vollständig aufzuklären. Solange diese Untersuchungen nicht abgeschlossen sind, können wir keine weiteren Details veröffentlichen. Dafür bitten wir um Ihr Verständnis“, hieß es in dem einseitigen Schreiben.
Am Montag waren Unregelmäßigkeiten im Berichtswesen der Nordamerika-Tochter bekannt geworden, im Zuge dessen mehrere Manager, darunter Vorstandschef Jim Hammill, Finanzchef Mark Weigel und Produktionsvorstand Howard Stratton, suspendiert wurden. Nach Informationen des US-Onlinemagazins „RV Daily Report“sollen die Manager mehr als 1700 Rechnungen im Gesamtwert von über 100 Millionen Dollar gefälscht, dadurch den Umsatz des Tochterunternehmens in die Höhe getrieben und zum Teil Gelder auf Privatkunden umgeleitet haben. Eine Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“an die Nordamerika-Tochter der EHG, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen, blieb unbeantwortet.
Dubios sei zudem die Übernahme des US-Unternehmens American Fastback gelaufen, hieß es in dem Bericht von „RV Daily Report“. Der Hersteller von Spezialdächern und Zubehör für die Marke Jeep sei von den Managern der Nordamerika-Tochter mit Firmengeldern aber ohne volles Wissen der Konzernführung in Deutschland gekauft worden. EHGChef Brandt bestätigte, dass „auch das Teil der Untersuchungen durch die Wirtschaftsprüfer von EY ist“.
EHG-Gesamtbetriebsratschef Janusz Eichendorff zufolge, schlagen die Vorkommnisse im fernen Kanada bei den Mitarbeitern am Stammsitz in Bad Waldsee hingegen keine großen Wellen. „Kanada ist weit weg. In der Belegschaft hier spielt das Thema keine große Rolle“, sagte Eichen- dorff im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Ob und wenn ja welche Auswirkungen der Bilanzskandal bei der Nordamerika-Tochter für die deutschen Standorte hat, vermochte Eichendorff, der am Montag davon erfahren hat, nicht zu sagen. Gleiches gilt für die Entlassungen an den Standorten in Kitchener und Cambridge. „Im Betriebsrat hatten wir nie Kontakte nach Kanada.“
Thor will Preiszugeständnisse
Mit den aktuellen Vorkommnissen in Nordamerika steht auch der Deal mit Thor Industries in seiner jetzigen Form auf der Kippe: Im September des vergangenen Jahres hatten die Amerikaner angekündigt, die EHG für 2,1 Milliarden Euro übernehmen zu wollen. Nun will Thor aber nachverhandeln und das NordamerikaGeschäft vom Kaufvertrag ausschließen. In dem Mitarbeiterbrief bestätigten das Brandt und Junker der Be- legschaft: „Aufgrund der laufenden Untersuchungen verhandeln Thor Industries und die Gesellschafter der Erwin-Hymer-Gruppe über den Abschluss des Kaufs der Erwin-HymerGruppe ohne das Nordamerika-Geschäft.“
Was das für den ausgehandelten Deal zwischen Thor und der EHG im Detail bedeutet, bleibt abzuwarten. Sicher scheint, dass die Gesellschafter der EHG, die Witwe von Unternehmensgründer Erwin Hymer, Gerda Hymer, und ihre Kinder Carolin und Christian, Preiszugeständnisse machen müssen. Anfragen der „Schwäbischen Zeitung“zum Stand der Nachverhandlungen an Aufsichtsratschef Johannes Stegmaier, dem ein guter Draht zur Familie Hymer nachgesagt wird, blieben unbeantwortet. Thor selbst hatte die Marschrichtung in einer Mitteilung vom Montag bereits vorgegeben. Der US-Konzern erwarte unter anderem Änderungen beim Kaufpreis und den übernommenen Schulden. Was sich hingegen nicht ändern soll, ist die Vereinbarung über die 2,3 Millionen Aktien, die die Hymer-Gesellschafter im Zuge des Deals erhalten sollen.
Nach Darstellung von Brandt und Junker würde Thor nach wie vor davon ausgehen, „dass der Kauf im dritten Quartal des laufenden Geschäftsjahres 2018/19 abgeschlossen wird“. Das entspräche einem Closing bis zum 30. April. Ein Scheitern des Deals kann zum jetzigen Zeitpunkt zwar nicht gänzlich ausgeschlossen werden, gilt aber als unwahrscheinlich. Denn aus Sicht der Amerikaner sind die Nordamerika-Aktivitäten der Schwaben verzichtbar, ist Thor in diesem Markt doch selbst heimisch und dominierend. „Die europäischen Aktivitäten waren und sind die treibende strategische Motivation für die Übernahme“, hieß es in der Mitteilung von Thor vom Montag.