Angeklagter gesteht Messerattacke
Prozessbeginn wegen der Messerattacke in Ravensburg: Mutmaßlicher Täter hat keine plausible Erklärung für sein Vorgehen
RAVENSBURG (sz) - Zum Prozessbeginn im Fall der Messerattacke auf dem Ravensburger Marienplatz hat der Angeklagte die Tat gestanden. Der 22 Jahre alte Asylbewerber gab am Donnerstag vor dem Landgericht zu, auf drei Männer mit einem Küchenmesser eingestochen zu haben. Gestoppt wurde er im September von Ravensburgs Oberbürgermeister Daniel Rapp, den der Täter für einen Polizisten in Zivil gehalten hat. Dem Afghanen wird versuchter Mord in zwei Fällen und versuchter Totschlag vorgeworfen.
RAVENSBURG - Ravensburg ist eine friedliche Stadt. Meist muss die Polizei sich hier nur mit harmlosen Discoprügeleien, angetrunkenen Autofahrern oder kleineren Diebstählen herumschlagen. Umso schockierter reagierten die Menschen in der Oberschwabenmetropole, als im vergangenen September ein Mann am helllichten Tag mitten in der Altstadt willkürlich auf Menschen einstach. Am Donnerstag begann der Prozess gegen ihn vor dem Ravensburger Landgericht.
Der Fall erregte Aufsehen weit über die Region hinaus. War es doch ein Flüchtling, der an einem lauen Freitag im September, als alle Menschen nur einkaufen und Kaffee trinken wollten oder auf den Bus nach Hause warteten, mit einem Küchenmesser mit 20-Zentimeter-Klinge in der Hand für Angst und Schrecken sorgte. Was war das? Ein terroristischer Akt? Ein Amoklauf? Eine gezielte Attacke? Oder die Tat eines psychisch Kranken?
Vieles deutet am ersten Verhandlungstag auf Letzteres hin. Selbst der Ankläger, der Leitende Oberstaatsanwalt Alexander Boger, spricht gleich zu Beginn von einer schizophrenen Psychose bei dem heute 22jährigen mutmaßlichen Täter. Es bestehe daher der dringliche Verdacht, dass er schuldunfähig sei. Aber: Der Mann bleibe dennoch gefährlich für die Allgemeinheit. Er müsse dauerhaft in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden, lautet Bogers Forderung.
Der Angeklagte erscheint im schwarzen Kapuzenpullover und in dunkelblauen Jeans. Sein rundliches Gesicht ist ohne sichtbare Bartstoppeln, es wirkt jünger als das eines 22Jährigen. Meist starrt der junge Mann ausdruckslos vor sich hin, zur Richterbank schweift der Blick selten. Nur wenn er mit dem Dolmetscher kommuniziert, verzieht er ab und an die Lippen zu einem schiefen Lächeln. Aber das kommt nicht sehr oft vor.
Es war der 28. September 2018: Zwei Tage zuvor war der Angeklagte, ein Geflüchteter aus Afghanistan, aus einer psychiatrischen Klinik entlassen worden, in der er sich mehr als drei Wochen lang aufgehalten hatte. Nun wollte er sich rächen an einem früheren Arbeitskollegen, mit dem es aus seiner Sicht immer wieder Stress gab – den er zu diesem Zeitpunkt aber seit zwei Monaten nicht mehr gesehen hatte. Am Vormittag kaufte er sich ein langes Küchenmesser und forderte den ehemaligen Kollegen einer Restaurantküche per Whats-App auf, sich mit ihm auf dem Marienplatz zu treffen. Der Ex-Kollege, aus dem Irak stammend, reagierte nicht auf die Nachrichten. Stattdessen traf der Angeklagte auf der Straße zufällig einen jungen Syrer, den er nur vom Sehen kannte. Ihm gegenüber kündigte er laut Aussage vor Gericht an, er werde einen Araber umbringen. Der Syrer entgegnete laut eigener Aussage nur: „Komm, geh nach Hause.“Aus unerfindlichen Gründen sollte dieser junge Mann später das erste Opfer des Afghanen werden.
Der Angeklagte antwortet leise, beinah schüchtern auf die Fragen des Vorsitzenden Richters Maier. Und oft nur mit einem Ja oder einem Nein. Vielfach kann er sich nicht erinnern. Oder sein Handeln nicht erklären. Auf die Frage, warum er an einer Bushaltestelle auf den Syrer zuging, ihn anherrschte, er sei Afghane, um dann mit dieser unverständlichen Begründung auf ihn einzustechen, sagt der Angeklagte lapidar: „Einfach so.“Seine Messerattacke räumt er mit einem Achselzucken ein.
Vieles ist unklar und verwirrend am ersten Verhandlungstag vor dem Landgericht. Oftmals widersprechen die Antworten des Angeklagten seinen früheren Aussagen. Und trotz eines Übersetzers an seiner Seite scheint er die an ihn gerichteten Fragen häufig nicht richtig zu verstehen.
Der Angeklagte ist ungefähr 22 Jahre alt, sein genaues Geburtsdatum kennt er nicht. Das dritte von neun Kindern ist er, der Vater Bauer, die Mutter Hausfrau. Zwölf Jahre besuchte er die Schule, ohne Abschluss, ging dann in den Iran, wo Verwandte leben, er arbeitete als Autowäscher. Über die Balkanroute gelangte er schließlich nach Deutschland. Hier stellte er im Sommer 2016 einen Asylantrag, der alsbald abgelehnt wurde. Auf Richter Maiers Frage, warum er nach Deutschland wollte, übersetzt der Dolmetscher: „Es hieß, hier kann man es gemütlich haben.“
Viermal in der Psychiatrie
Gemütlich hatte es der junge Flüchtling jedoch kaum. Keine Anerkennung als Asylbewerber, seine Klage gegen die Ablehnung erfolglos. In Sigmaringen, seiner ersten Station in der Region, kam er ins Krankenhaus, betrunken, es gab Streit in der Unterkunft, er verletzte sich selbst am Handgelenk. Viermal war er vor der Messerattacke in Ravensburg stationär in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht. Nach eigener Aussage bekam er dort Medikamente. Als er die Kliniken verließ, warf er sie weg.
Auch in den Flüchtlingsunterkünften in Horgenzell und später in Ravensburg gab es immer wieder Probleme mit ihm. Zwar fand er Arbeit als Küchenhelfer, musste den Job aber nach einem Jahr aufgeben, weil er nachts nicht mehr schlafen konnte. Er litt unter Angststörungen, gab an, immer wieder Stimmen in seinem Kopf zu hören.
Am Nachmittag des 28. September 2018 geht der Afghane, bekifft, in der Ravensburger Altstadt zur Bank, will Kumpels folgen zum Döneressen, er braucht aber noch Geld. Sein morgens gekauftes Messer trägt er versteckt im Hosenbund, als er das Geldinstitut wieder verlässt. Gleich gegenüber sitzt eine Gruppe junger Männer an der Bushaltestelle, einer davon ist der Syrer, der flüchtige Bekannte, den er am Morgen getroffen hatte. Zielgerichtet, spontan, mit oder ohne Plan, man weiß es nicht: Er geht auf den Schüler zu und sticht auf ihn ein. Der Mann wird lebensgefährlich verletzt.
Einen daneben sitzenden Syrer verletzt er ebenfalls schwer, dennoch gelingt dem die Flucht. Helfer eilen herbei, eine Frau fleht den Afghanen an, von dem bereits stark blutenden Opfer abzulassen. Der genaue chronologische Tatablauf bleibt vor Gericht zunächst unübersichtlich. Der Angeklagte soll das zweite Opfer, das flüchtet, verfolgt, dann von ihm abgelassen und einen weiteren, unverletzt fliehenden Mann gejagt haben. Dann kehrt er an den Tatort zurück zu seinem ersten Opfer, um es erneut zu attackieren.
Der damals 21-jährige Angreifer geht schließlich weiter, bedroht andere Menschen in der Fußgängerzone mit seinem Messer. Lässt die dann aber doch in Ruhe, weil sie, wie er vor Gericht sagt, ebenfalls Afghanen gewesen seien. Deutsche oder Italiener hätte er aber ebenso niemals verletzt, gibt er an.
Dennoch trifft es dann doch auch einen Deutschen. Ein 52-jähriger Tourist will den Mann mit dem blutverschmierten Messer stoppen, im Außenbereich eines Lokals, mit einem erhobenen Stuhl als Schutzschild vor sich. Der Tourist aus Hessen wird mit Stichen schwer verletzt, weil er sich dem Afghanen in den Weg stellt. Vor Gericht sagt der Angeklagte nach Aussage des Dolmetschers: „Der hat angefangen. Ich wollte den nicht schlagen.“
Trotz hartnäckiger Nachfrage des Gerichts kann der Angeklagte das Motiv für seine Tat nicht schlüssig erklären. Er hatte es morgens auf seinen ehemaligen Kollegen abgesehen, doch der kam nicht. Dann habe er am Nachmittag unvermittelt auf den jungen Syrer eingestochen, weil der Araber sei wie sein ehemaliger irakischer Arbeitskollege. Dass das erste Opfer Kurde ist, wusste er entweder nicht oder es spielte keine Rolle für ihn. Das zweite Opfer, nach Zeugenaussage halbkurdisch, halbarabisch, saß nur zufällig neben dem ersten an der Bushaltestelle. Und der deutsche Tourist stand im Weg und wollte mit einem Stuhl auf ihn losgehen. So die ungefähren Aussagen des Angeklagten. Nähere Erklärungen gibt es nicht.
Ohnehin ist vieles nicht erklärbar in diesem Prozess. Richter, Staatsanwaltschaft und Gutachter verweisen immer wieder auf die psychiatrische Vorgeschichte des Afghanen, darauf, dass er Stimmen gehört habe. Die Stimmen im Kopf gab es offenbar wirklich, manchmal, zu früheren Zeiten, dann später wieder, bei der Tat zuerst nicht, dann aber doch: Die Aussagen des Angeklagten bleiben mysteriös. Und die Erinnerungslücken groß.
Die syrischen Opfer der Messerattacke sagten am ersten Verhandlungstag beide, sie hätten den Angeklagten zuvor nur vom Sehen gekannt. Näheren Kontakt oder gar Probleme habe es mit ihm niemals gegeben. Alle drei Attackierten leiden unter den Folgen der Tat, entweder körperlich oder psychisch.
Die Verhandlung vor dem Landgericht wird am Freitag fortgesetzt.
Staatsanwalt Alexander Boger fordert die dauerhafte Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik
Ein Tourist aus Hessen und zwei junge Syrer wurden durch Messerstiche schwer verletzt